„Laufendes Semester nicht anrechnen“
Die Grünen-Fraktionsvorsitzende fordert Hilfe für Studenten, die durch die Corona-Krise in Bedrängnis geraten sind.
BERLIN Katrin Göring-Eckardt, die Fraktionschefin der Grünen, nutzt für unser Interview die Möglichkeiten der Technik: Sie ist uns aus ihrer Heimat Thüringen per Videokonferenz zugeschaltet. Im Hintergrund ist Vogelgezwitscher zu hören.
Frau Göring-Eckardt, halten Sie es für richtig, dass in Ihrem Heimatland Thüringen die Kontaktbeschränkungen von Vorschriften in Empfehlungen verwandelt werden?
GÖRING-ECKARDT Es ist nach wie vor große Vorsicht geboten. Aber dort, wo das Infektionsgeschehen es erlaubt, sind Lockerungen möglich. In Thüringen gibt es derzeit nur sehr wenige Infektionsfälle. Deshalb wurde ein Teil der Vorschriften in Empfehlungen umgewandelt. Klar ist aber auch: Sollte lokal eine größere Zahl von Fällen auftauchen, kann und wird auch sofort gehandelt werden. Ich mahne dennoch zu großer Vorsicht. Am Ende darf das Problem nicht auf den Schultern der Verkäuferinnen oder Erzieherinnen landen. Zu oft habe ich zum Beispiel in der Straßenbahn schon erlebt, dass Menschen auch die geltenden Vorschriften wie die Maskenpflicht nicht beachtet haben.
Liegt nicht genau da das Problem: dass, wenn die Vorschriften gelockert werden, immer weniger Menschen noch bereit sind, die Abstandsund Schutzmaßnahmen einzuhalten?
GÖRING-ECKARDT Deswegen ist auch klar, dass, sollten die Infektionszahlen steigen, die Empfehlungen wieder in Vorschriften verwandelt werden müssen. Deutschland darf nicht unvorsichtig werden. Nirgends.
Die Kontakteinschränkungen stehen in einem Spannungsverhältnis zum Bedürfnis, an Demonstrationen – wie aktuell den Anti-Rassismus-Demos – teilzunehmen. Wie lässt sich das vereinbaren?
GÖRING-ECKARDT Solidarität braucht beides: Demos und Rücksichtnahme. Auch auf Demonstrationen bleibt es wichtig, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, gerade dann, wenn man den notwendigen Abstand mal nicht einhalten kann. Die meisten Leute haben diese hohe Verantwortung. Da sind auch die Veranstalter von Demonstrationen gefragt. Sie sollten auf andere Demonstrationsformen setzen, bei denen Abstand gehalten werden kann, wie zum Beispiel eine Menschenkette, bei der man nicht so dicht beieinander steht. Völlig klar ist, dass das Grundrecht auf Demonstrationsund Versammlungsfreiheit gewährleistet bleiben muss.
SPD-Chefin Esken sieht einen „latenten Rassismus“bei der Polizei. Wie bewerten Sie das?
GÖRING-ECKARDT Die Debatte darüber muss auf jeden Fall sehr offen geführt werden – ohne Generalverdacht. Gerade bei der Polizei muss man wissen, was dort passiert, weil sie das Gewaltmonopol unseres Staates ausübt. Beschwerden dringen oft nicht durch. Deshalb halte ich die Stelle eines unabhängigen Polizeibeauftragten für zentral. Auch im Interesse der vielen Polizisten, die einen tollen Job machen.
Viele Studierende können, weil sie durch Corona ihre Nebenjobs verloren haben, ihr Leben nicht mehr finanzieren. Wie kann geholfen werden?
GÖRING-ECKARDT Viele Studis sind unter massivem Druck, weil ihre Nebenjobs weggefallen sind und weil die Eltern nicht einspringen können. Wir brauchen für alle Studierenden, die nachweislich wegen der Corona-Krise ihren Nebenjob verloren haben, ein Nothilfe-Bafög mit bis zu 450 Euro im Monat. Das ist eine einfache und schnelle Hilfe. Zudem sollte darauf verzichtet werden, das laufende Semester auf die Regelstudienzeit anzurechnen. An vielen Universitäten war die Situation so, dass kein regelhaftes Semester stattfinden konnte.
Soll das Nothilfe-Bafög zurückgezahlt werden müssen?
GÖRING-ECKARDT Nein. Nothilfe-Bafög heißt: unmittelbar, schnell und nicht als Kredit, sondern als Zuschuss.
Sie haben in den vergangenen Wochen immer wieder eine neue Gruppe gefunden, für die Sie auch noch staatliche Hilfe gefordert haben. Ist das nicht zu reflexhaft?
GÖRING-ECKARDT Es ist doch unsere Aufgabe zu schauen, wer vergessen wird und bisher nicht unter die zahlreichen Rettungsschirme kommt. Da gibt es Autogipfel im Kanzleramt und eine Mehrwertsteuersenkung, die den Handel fördert…
… die freilich auch den Studenten als Konsumenten helfen kann.
GÖRING-ECKARDT Trotzdem muss man sich ja die Frage stellen, wo Menschen in existenzielle Not kommen. Es kann nicht sein, dass nur denen geholfen wird, die die lauteste Lobby haben. Wenn jemand als Studierender seine Miete nicht mehr bezahlen kann, dann darf man darauf nicht mit einem Achselzucken reagieren. Aus dem gleichen Grund setzen wir uns auch für die Soloselbstständigen ein, die immer wieder durch den Rost fallen. Es muss doch gerade in der Krise darum gehen, den Zusammenhalt der Gesellschaft zu sichern. Dazu gehören alle und nicht nur die Privilegierten. Auch die Pflege ist weiterhin ein Riesenthema…
…für das Pflegepersonal fordern Sie auch noch mehr Steuergeld?
GÖRING-ECKARDT Es ist eine Farce, dass die Bundesregierung verspricht, dass es für alle Pflegenden einen Bonus geben soll, und dann ist er am Ende doch nicht für alle da, sondern nur für die Altenpfleger. Rund 200 Pflegende infizieren sich täglich. Es ist ein gefährlicher Dienst, in der Pflege zu arbeiten. Und zugleich ein so wichtiger. Wir reden über Hunderte Milliarden Euro, die gegen die Corona-Krise eingesetzt werden. Bei diesen Summen ist es nicht richtig, das Krankenpflegepersonal außen vor zu halten und ihm keinen Bonus zu zahlen.