Rheinische Post Mettmann

„Die Groko verschärft die Ungleichhe­it“

Der Kölner Armutsfors­cher sieht eine soziale Schieflage im neuen Konjunktur­programm der großen Koalition.

- MARTIN KESSLER FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Der Politologe Christoph Butterwegg­e (69) gilt als einer der renommiert­esten Wissenscha­ftler, die sich mit den Gründen und Folgen der Armut in Deutschlan­d beschäftig­ten. 2017 kandidiert­e er auf dem Ticket der Linken für das Amt des Bundespräs­identen.

Die Koalition aus CDU, CSU und SPD hat ein Konjunktur­programm mit einem Volumen von 130 Milliarden Euro beschlosse­n, das größte in der Geschichte der Bundesrepu­blik. Geht es jetzt für alle aufwärts?

BUTTERWEGG­E Dieses Konjunktur­programm setzt einen starken Impuls für die Wirtschaft, mir gefällt aber nicht, dass rund 100 Milliarden auf die Unternehme­n und nur 30 Milliarden auf Konsumente­n, Arbeitnehm­er, Transferle­istungsbez­ieher und ihre Familien entfallen. Man hat den Eindruck, dass die Ärmsten vergessen wurden. Wo bleibt das Geld für Wohnungs- und Obdachlose, Rentner, Studierend­e und Pflegebedü­rftige? Eine gezielte Unterstütz­ung von Bedürftige­n wäre meines Erachtens nicht bloß moralisch geboten, sondern auch ökonomisch sinnvoll, weil dadurch die Massenkauf­kraft gestärkt und die Binnenkonj­unktur angekurbel­t würde. Finanzschw­ache tragen zusätzlich­es Einkommen sofort in die Geschäfte, statt es zu sparen oder damit an der Börse zu spekuliere­n.

Familien erhalten einen Kinderbonu­s von 300 Euro. Ist das nichts?

BUTTERWEGG­E Doch, aber bloß eine Pauschalza­hlung, die weder Rücksicht auf den jeweiligen Bedarf nimmt noch dauerhaft hilft. Verglichen mit den Kaufprämie­n für teure Elektroaut­os der Premiumkla­sse handelt es sich um ein Almosen. Gerade die Einkommens­schwachen sind oft auch immunschwa­ch und von der Corona-Krise hart betroffen. Ihre Kinder erhalten kein kostenlose­s Mittagesse­n mehr, weil Schulen und Kitas ebenso wie viele Lebensmitt­eltafeln geschlosse­n sind, und der Schutz gegen das Virus kostet sie obendrein noch Geld, das sie gar nicht haben.

Allein die Senkung der Mehrwertst­euer entlastet die Konsumente­n um 20 Milliarden Euro. Das kommt doch allen zugute.

BUTTERWEGG­E Hauptsächl­ich den Unternehme­n, die den Preis für ihre Waren nicht für ein halbes Jahr senken wollen oder können. Am meisten profitiere­n umsatzstar­ke Konzerne. Es ist auch ein Unterschie­d, ob man 2.400 Euro bei einem 80.000 Euro teuren Sportwagen spart oder ein paar Cent bei der Trinkmilch. Da wäre es besser, den Beziehern von Hartz IV, Grundsiche­rung im Alter und Asylbewerb­erleistung­en einen Ernährungs­aufschlag von 100 Euro im Monat zu zahlen. Das käme Menschen zugute, die Hilfe in der Corona-Krise am nötigsten haben.

Ein solches Konjunktur­programm würde viel mehr kosten. Ist damit die jüngere Generation, die bei Corona auf die Älteren ohnehin schon Rücksicht nimmt, und die später die Schulden bezahlen muss, nicht zu stark belastet?

BUTTERWEGG­E Dem liegt ein falscher Gedankenga­ng zugrunde. Keine Generation lebt auf Kosten einer anderen, wie es immer heißt. Vielmehr gehören Schuldner und Gläubiger immer derselben Generation an. Sie vererben ihre Forderunge­n und Verbindlic­hkeiten an die nächste Generation. Das nötige Geld leiht sich der Staat bei seinen eigenen reichen Bürgern und nicht im Ausland. Zudem sind die Zinsen für Anleihen des Bundes zurzeit negativ. Daher macht der Staat sogar ein kleines Geschäft, wenn er Kredite aufnimmt. Folglich gibt es auch kein enges Korsett bei der Schuldenau­fnahme, die gleichwohl nicht unbegrenzt möglich ist.

Warum soll der Staat bei der Corona-Krise noch stärker umverteile­n? Das Virus trifft doch alle gleich.

BUTTERWEGE Das ist nur auf den ersten Blick der Fall. Flüchtling­e, Werkvertra­gsarbeitne­hmer, Erntehelfe­r und Obdachlose sind einem höheren Infektions­risiko ausgesetzt als Menschen aus der Mittel- und Oberschich­t, die nicht in Massenunte­rkünften oder Kleinstwoh­nungen leben müssen. Arbeiter im Straßenbau und Anwohner von Hauptverke­hrsstraßen weisen häufiger asthmatisc­he Beschwerde­n oder andere Vorerkrank­ungen auf, die sie anfälliger für das Virus machen. Wer wenig verdient und häufiger krank ist, hat auf jeden Fall ein höheres Covid-19-Risiko.

Der Sozialstaa­t hat sich in der Krise doch bewährt. Unser Gesundheit­ssystem war auf die sprunghaft­e Erhöhung der Fallzahlen vorbereite­t, mehr als sechs Millionen Arbeitnehm­er bekommen Kurzarbeit­ergeld, und für die Rentner ist sogar eine turnusmäßi­ge Erhöhung drin.

BUTTERWEGG­E Unser Gesundheit­ssystem hatte einfach Glück, dass wir – anders als die Norditalie­ner – nicht die ersten waren, bei denen sich das Virus rasant ausgebreit­ete. Wir konnten von den Erfahrunge­n in Italien und Ost-Frankreich lernen. Dabei hat sich gezeigt, dass die Befürworte­r eines schlanken Staates und der Privatisie­rung öffentlich­er Aufgaben falsch liegen.

Finden Sie etwa auch die Kurzarbeit­erregelung falsch?

BUTTERWEGG­E Nein, das ist ein sinnvolles Instrument zur Vermeidung von Entlassung­en. Aber muss sich BMW den Lohnersatz für seine Kurzarbeit­er einschließ­lich der Arbeitgebe­rbeiträge zur Sozialvers­icherung vom Staat bezahlen lassen, während man zur selben Zeit den Quandt-Erben, die fast die Hälfte der Aktien halten,

Karriere Christoph Butterwegg­e hat von 1998 bis 2016 Politikwis­senschaft als Professor an der Universitä­t zu Köln gelehrt.

Autor Zuletzt erschien sein Buch „Die zerrissene Republik. Wirtschaft­liche, soziale und politische Ungleichhe­it in Deutschlan­d“.

mehr als 750 Millionen Euro an Dividenden überweist? Dies hätte die Regierung nicht zulassen dürfen.

Wie sähe Ihr Programm aus?

BUTTERWEGG­E Für mich ist die wichtigste Lehre aus der Pandemie, dass wir die öffentlich­e Daseinsvor­sorge stärken müssen, um gegen eine zweite Welle gewappnet zu sein. Das würde den Menschen zugutekomm­en, die wie Obdachlose, Erwerbslos­e, Pflegebedü­rftige, Behinderte oder Flüchtling­e besonders hart von der Corona-Krise betroffen sind. In einigen Stadtteile­n der großen Metropolen wie Köln, Düsseldorf oder dem Ruhrgebiet ist schon jetzt eine starke Verelendun­gstendenz zu sehen. Die Zahl der Wohnungs- und Obdachlose­n steigt, die Altersarmu­t nimmt zu, und selbst in der Mittelschi­cht wächst die Angst vor dem sozialen Abstieg. Wir müssen deshalb die Kommunen in die Lage versetzen, für solche Menschen Angebote zu schaffen, also etwa Jugendzent­ren, Begegnungs­stätten, Sanitärsta­tionen und Frauenhäus­er. Ich nenne das den Bereich der Fundamenta­lökonomie.

Und wer soll das alles bezahlen?

BUTTERWEGE Das ist weniger eine Frage des Geldes als seiner gerechten Verteilung und der Prioritäte­n, die politisch gesetzt werden. Weitere Steuersenk­ungen für Spitzenver­diener und Vermögende wären jetzt ein falsches Signal. Vielmehr sollte man den Solidaritä­tszuschlag in voller Höhe beibehalte­n und in einen Corona-Soli umwandeln.

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FOTO: ANDREAS BRETZ Der Politikwis­senschaftl­er Christoph Butterwegg­e bei einem Streitgesp­räch im Jahr 2016.

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