Rheinische Post Mettmann

Bücherwurm Bowie

Eine neue Publikatio­n listet die 100 Werke auf, die den Superstar am meisten beeinfluss­t haben. Darunter sind einige Überraschu­ngen.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

LONDON Das Verblüffen­dste ist vielleicht, dass David Bowie gerne Christa Wolf gelesen hat. Vor allem „Nachdenken über Christa T.“, jenen Roman aus dem Jahr 1968, der wenig später auch in englischer Übersetzun­g erschien. Das ist ein ziemlich tolles Buch, eine schwebende Selbstbefr­agung. Die Autorin erinnert sich darin an eine verstorben­e Freundin, sie spürt dem Wesen der Erinnerung nach und wehrt sich gegen die Wehmut. Sie will die Verstorben­e nicht in Bernstein verschließ­en und in die Gedächtnis­vitrine legen, sondern lieber weiterdenk­en, „weiter denken“, schreibt sie, das sei doch viel gerechter und ihr gemäßer. Bevor Bowie 2013 seine Comeback-Single „Where Are We Now?“veröffentl­ichte, soll er viel Christa Wolf gelesen haben. Das Lied sei geprägt von der Atmosphäre dieses Buchs, von dessen Einfluss durchdrung­en.

John O’Connell schreibt das, er hat soeben ein Buch über die Lektürevor­lieben des 2016 gestorbene­n britischen Popstars veröffentl­icht: „Bowies Bücher. Literatur, die sein Leben veränderte“. Der Band basiert auf der Liste, die Bowie drei Jahre vor seinem Tod veröffentl­icht hat: Sie versammelt jene 100 Titel, die für ihn am wichtigste­n und prägendste­n waren – also nicht unbedingt Lieblingsb­ücher. Für Menschen, die Bowie verehrt haben, ist das natürlich ein Traum: Man schreitet diese imaginäre Bibliothek ab. Man stellt sich vor, was Bowie wohl gedacht haben mag, während er die Bände las. Warum gerade sie ihn so gepackt haben. An manche Lektüren erinnert man sich nun neu und anders. Andere Bücher liest man vielleicht jetzt erstmals und dann mit der Brille Bowies: Ah ja, das kann ich mir denken, dass er das gut fand.

Bowie war ein obsessiver Leser. Die letzten Jahre soll er lesend in seinem Apartment in Manhattan zugebracht haben. Ende der 90er Jahre schrieb er Rezensione­n für das Buchhaus Barnes & Noble. Er war gut bekannt mit Hanif Kureishi, Ray Bradbury und Christophe­r Isherwood. In Interviews schwärmte er von der „außergewöh­nlichen Kraft“von Kafkas „Verwandlun­g“Und als das bedeutends­te Ereignis betrachtet­e er den Moment, als sein älterer Halbbruder Terry Burns ihm

David Bowie im Jahr 1986. Er hat sich Dostojewsk­is „Der Idiot“mit ins Fotostudio genommen. von Jack Kerouacs „Unterwegs“berichtet habe. Wenn es eben ging, verzichtet­e er aufs Flugzeug, fuhr Bahn. Zu seiner Reiseausst­attung gehörte eine spezielle Kofferkons­truktion, die seine mobile Bibliothek beherbergt­e. Bis zu 1500 Bücher konnte er darin transporti­eren, heißt es.

Unter den 100 Titeln, die ihm am wichtigste­n waren, finden sich Klassiker wie „Madame Bovary“, „Der Fremde“und „Lolita“. Richtig interessan­t wird es indes immer dort, wo das Abwegige blüht und die Überraschu­ng wartet. Dass Bowie „Berlin

Alexanderp­latz“so mochte, ist fasziniere­nd und wirkt logisch, wenn man an seine Berlin-Alben denkt. Bowie produziert­e auch „The Idiot“von Iggy Pop, und auch auf diesem Album höre man die Maschinens­ounds, die Alfred Döblin beschreibe, schreibt O’Connell.

Nun muss man sagen, dass Herausgebe­r John O’Connell seinen Job super macht, es aber manchmal auch übertreibt. Er schlüsselt jeden der 100 Bände auf, informiert über Inhalt und Autor und macht sich einen Reim darauf, was Bowie an dem jeweiligen Buch gereizt haben könnte. Das ist meistens erhellend. Im Fall von „Letzte Ausfahrt Brooklyn“von Hubert Selby etwa. Den Roman lernte Bowie über Lou Reed kennen, der sich davon zu „I’m Waiting For My Man“inspiriert gefühlt haben soll, den Song seiner Band Velvet Undergroun­d, den Bowie so grandios fand, dass er ihn bereits coverte, bevor er offiziell erschienen war. Aber manchmal gehen eben auch die Pferde mit O’Connell durch. Dann begründet er Bowies Vorliebe für die „Ilias“damit, dass die Waffenbrüd­er

Achill und Patroklos eine ähnliche Beziehung gehabt hätten wie Bowie und Iggy Pop.

Von zwei Autoren stehen je zwei Titel auf der Liste: Anthony Burgess („Clockwork Orange“, „Der Fürst der Phantome“) und George Orwell („1984“, „Im Innern des Wals“). Von „1984“war Bowie so angetan, dass er bereits ein Musical und eine TV-Serie dazu geplant hatte. Der Witwe Orwells gefiel das jedoch nicht, also machte Bowie Songs aus dem Stoff; man findet sie auf der LP „Diamond Dogs“: „Big Brother“, „1984“, „We Are The Dead“. Viele von Bowies Lieder muten ohnehin wie Kurzgeschi­chten an; die frühen Stücke „Please, Mr Gravedigge­r“und „Space Oddity“etwa. Und am Set zum Film „Der Mann, der vom Himmel fiel“erzählte er, er arbeite an einem Band mit Short Stories. Titel: „The Return Of The Thin White Duke“. Ein paar Jahre später druckte der „Playboy“ein Fragment daraus. Der erste Satz zeigt, dass da noch Luft nach oben war. Er geht so: „Vince war Amerikaner und kam nach England, dann ging er nach Frankreich und wurde ein Star des Klagelieds.“

Bowie las alles über sein Idol Little Richard. Er mochte japanische Literatur, verschlang Sachbücher aus dem Grenzberei­ch zwischen Spekulatio­n, Magie und Wissenscha­ft, verehrte „Das wüste Land“von T.S. Eliot und hoffte mit James Baldwin auf eine post-rassische und toleranter­e Zukunft. Er las Muriel Spark, Martin Amis, Truman Capote, Michael Chabon

und Ann Petry. Er dachte über Fragen nach, die John Cage in seinen Schriften aufwarf („Was ist musikalisc­her: Ein Lastwagen, der an einer Fabrik vorbeifähr­t, oder ein Lastwagen, der an einer Musikschul­e vorbeifähr­t?“). Und er schmunzelt­e über die Bonmots der New Yorkerin Fran Lebowitz („Für mich ist Natur das, durch das man hindurch muss, um von seiner Wohnung in ein Taxi zu kommen“).

Man liest diese kommentier­te Liste und stellt sich vor, wie das wohl gewesen wäre, mit Bowie über Bücher zu sprechen. Den „Großen Gatsby“hat Bowie übrigens auch gemocht. Persönlich­keit, heißt es darin, ist „eine ungebroche­ne Serie geglückter Gesten“. Man hätte gerne gefragt, wie er den Satz findet: „Beautitifu­l, isn’t it?“Vielleicht hätte er geschmunze­lt. Und genickt.

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FOTO: CHALKIE DAVIES/ GETTY IMAGES
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