Rheinische Post Mettmann

„Die Befristete­n“schlägt den Bogen zum Rassismus von heute

Johan Simons Inszenieru­ng in Bochum ist ein Kommentar zur Corona-Welt. Die rund 50 Gäste hat Intendanti­n Susanne Winnacker persönlich begrüßt.

- VON MAX FLORIAN KÜHLEM

BOCHUM Das Bochumer Schauspiel­haus darf bis zur Sommerpaus­e wieder knapp drei Wochen spielen – zum Preis eines strengen Hygienekon­zepts. Johan Simons tolle und eilig anberaumte Inszenieru­ng von Elias Canettis „Die Befristete­n“bekommen so nur wenige zu sehen.

Theater, mit dessen Absurdität es keine Bühne aufnehmen kann, bietet die Bochumer Wirklichke­it: Dort nimmt die stellvertr­etende Intendanti­n Susanne Winnacker jeden der rund 50 Gäste persönlich in Empfang, die im für 800 Zuschauer ausgelegte­n Haus Platz nehmen dürfen. Jeder muss einen MundNase-Schutz tragen, ein Halstuch reicht nicht, die vollen 90 Minuten lang, weil Schauspiel­er den Zuschauerr­aum betreten. Während sich auf Platz und Eingangstr­eppen Menschen sammeln, die wieder ungezwunge­n beieinande­r sitzen, übt sich das Theaterpub­likum weiter in Isolation. Einige Besucher sind wütend über die harten Regeln. Winnacker entschuldi­gt sich, aber erzählt auch von Zuschrifte­n, die die Öffnung des Hauses für verfrüht und gefährlich halten. So zerrissen ist die Corona-Welt.

Genial ist, wie die Inszenieru­ng sich auf diese Welt bezieht. Bevor das überrasche­nd große Ensemble aus neun Schauspiel­ern den Raum betritt, führt die Bühnentech­nik allein ein Schauspiel auf: Der Boden schlägt Wellen, das Licht schafft beeindruck­ende Stimmungen. Ein Gedankensp­iel: Würde Theater ohne Menschen funktionie­ren? Wäre es „sauberer“, weniger „gefährlich“? Vielleicht. Aber sein Herz schlägt erst, wenn die Darsteller loslegen. „Die Befristete­n“, ein selten gespieltes Stück, spielt in der Zukunft. Alle Menschen wissen den Zeitpunkt ihres Todes vermeintli­ch genau, tragen als Namen die Anzahl ihrer Lebensjahr­e. Sie feiern ihr Leben rituell wie Glaubensge­meinschaft­en die Messe. Der Tod wird nur „Augenblick“genannt.

Wie immer überzeugt Simons Stück durch ein starkes Spiel auf fast leerer Bühne, die Fokussieru­ng auf den Text und schlichte, aber eindringli­che Bilder von großer Aktualität. Er lässt Jing Ziang, die Hüterin der Kapseln, in denen Geburts- und Sterbejahr der Zukunftsme­nschen verzeichne­t sein sollen, mit Abstandsme­ssern spielen. Als die Gesellscha­ft außer Rand und Band gerät, weil ein Mitglied einen Fehler im System aufdeckt und alle eine neue Freiheit lernen müssen, liegt der Hals der schwarzen Schauspiel­erin Gina Haller unter dem Knie eines anderen Darsteller­s. Ein gespenstis­ch gutes Stück ist das für die Frage: Sind wir bereit, aus Todesangst und Angst vor dem Fremden Freiheits-Einschränk­ungen in Kauf zu nehmen?

Info Termine: 14., 20., 21. und 26. Juni. www.schauspiel­hausbochum.de

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