Herr Goretzka ist erwachsen
Der Münchner Mittelfeldspieler ist eine Führungsfigur bei den Bayern geworden. Er drängt sich auch bei der Nationalelf für eine solche Rolle auf.
MÜNCHEN In einer anderen Welt würde die Nationalelf am Dienstag gegen Frankreich in München vor ausverkauftem Haus in die EM starten. Die Mannschaft von Bundestrainer Joachim Löw würde vermutlich von einer Welle getragen. Und ganz sicher wäre Leon Goretzka (25) ein Stammspieler.
Denn er hat sich beim FC Bayern zu einem Schlüsselspieler aufgeschwungen. An der Seite von Joshua Kimmich (25) bildet er ein „Mittelfeld, das das Herz der Mannschaft darstellt“, wie der Vorstandsvorsitzende Karl-Heinz Rummenigge
feststellt.
Das wäre auch in der Nationalmannschaft so. Kimmich ist bereits eine wesentliche Gestaltungskraft, er hat sich die Rolle früh reserviert. Im zentralen Mittelfeld sorgt er für den Rhythmus, nach den Spielen erklärt er, was auf dem Platz geschehen ist. Er ist der Klassensprecher.
Goretzka hat bei Löw oft gut gespielt, er wirkte trotzdem eher unauffällig. Das aber ändert sich gerade. Als das Virus die Spieler ins Homeoffice geschickt hatte, packte der schlaksige Kerl die Hanteln aus. Er schaffte sich ein ordentliches Muskelpaket an. Und weil er es nicht übertrieben hat wie der ehemalige
Bremer Torhüter Tim Wiese, der sich auf der Hantelbank in eine Kopie der Comicfigur Hulk verwandelte, helfen Goretzka die Muskeln. „Er hat eine wahnsinnige Präsenz auf dem Platz“, sagt sein Trainer Hansi Flick.
Goretzka bestreitet die Zweikämpfe mit viel mehr Nachdruck, er holt sich Bälle wie früher Stefan Effenberg und Michael Ballack, ohne sich über Gebühr dabei aufzupumpen. Und wie Ballack entwickelt er Torgefahr. Seine Spielintelligenz erlaubt es ihm, immer da aufzutauchen, wo es etwas zu gewinnen gibt. Das können nur die ganz Guten.
Er ist längst auf dem Weg, ein ganz Guter zu werden, einer, den man nicht mehr an anderen misst, sondern nur noch an der Größe Goretzka. Und weil zu einem außergewöhnlichen Sportler oft eine außergewöhnliche Persönlichkeit gehört, beschränkt sich Goretzkas Wirken nicht auf den Fußballplatz. Er bezieht Stellung – gegen Rechtsextremismus und für die gesellschaftliche Verantwortung der Berufssportler.
In der beginnenden Corona-Zeit gründete er gemeinsam mit Kimmich (kein Zufall) die Aktion „We kick Corona“. Je eine halbe Million Euro brachten die beiden Fußballer ein. Ihre Spenden gehen nach eigenen Angaben an karitative Vereine, an die Tafeln oder an Obdachlose.
Kollegen und Trainer haben sich angeschlossen, fünf Millionen Euro sind so bereits zusammengekommen.
Das ist mindestens so beeindruckend wie die Muskelpakete, die sich der einst so dünne Mann aus Bochum draufgeschafft hat. „Er ist sich seiner Vorbildfunktion als Nationalspieler bewusst“, urteilt Löw. Ebenso bewusst hat Goretzka sein Fußballleben geplant. Als 17-Jähriger wurde er beim VfL Bochum Profi, als 18-Jähriger wechselte er zu Schalke 04, und mit 23 Jahren ging er zu den Bayern. Mit 25 ist er dort so richtig angekommen. Goretzka ist erwachsen geworden.