Corona stoppt Kumpel
Das Virus grassiert in Polens Bergwerken, und die drohende Rezession könnte den Niedergang der Branche noch beschleunigen.
KATOWICE/WARSCHAU Polen schien bislang gut durch die Corona-Krise zu kommen. Rund 25.000 Covid-19-Infektionen und 1150 Todesfälle waren nach drei Monaten Pandemie überschaubare Zahlen. Das Gesundheitsministerium hob zuletzt sogar die landesweite Maskenpflicht auf. Doch dann erwachten viele Polen in einer anderen, schlagartig wieder brüchig gewordenen Wirklichkeit. „So schlimm war es noch nie“, titelte die „Gazeta Wyborcza“. Und das belegte die offizielle Statistik eindrücklich. Allein über das zweite Juni-Wochenende kamen 1151 Corona-Infektionen im Land hinzu. Die gute Nachricht lautete: Es gibt mit der Region Oberschlesien einen klar identifizierten Hotspot.
So war der größte Teil neuen Fälle auf eine Ansteckungswelle in dem südpolnischen Kohlebergwerk Zofiowka zurückzuführen. Innerhalb kürzester Zeit infizierte sich dort jeder Dritte der 3500 Kumpel, die das Virus dann an Angehörige und Freunde übertrugen. Und die Zeche ist kein Einzelfall, obwohl sie in der Kleinstadt Jastrzebie-Zdroj, in Grenznähe zu Tschechien, etwas abseits gelegen ist. Inzwischen aber ist jeder fünfte Corona-Infizierte in Polen ein Grubenarbeiter aus dem oberschlesischen Kohlenpott, einem Bergbau- und Industrierevier, in dem die großen Städte wie Katowice, Chorzow, Bytom und Zabrze fast ohne erkennbare Grenzen ineinander übergehen.
Polnische Medien verglichen die Metropolregion mit ihren 4,5 Millionen Menschen bereits mit dem chinesischen Wuhan und spekulierten über eine Abriegelung. Die Regierung in Warschau wies das bislang allerdings vehement zurück. Es reiche aus, die Virusbekämpfung in den Gruben zu verbessern. Nach ersten Masseninfektionen in der Region Ende April arbeiteten die Betreiber unter Hochdruck Hygienepläne aus. Die Belegschaften wurden halbiert und in Wechselschichten eingesetzt. Die Gesundheitsbehörden organisierten begleitende Massentests. Schließlich musste der für den Bergbau zuständige Vizepremier Jacek Sasin jedoch einräumen, dass die Maßnahmen nicht gegriffen hätten. Konsequenz: Es wurde angeordnet, dass die „Arbeit in zwölf von rund 30 oberschlesischen Zechen für drei Wochen ruhen muss.
In dieser Zeit sollen erneut massenhafte Corona-Tests unter den Grubenarbeitern durchgeführt werden. Doch ob das reicht, um die Förderräder Ende Juni wieder in Schwung zu setzen, ist zweifelhaft. Denn das Ansteckungsrisiko in den engen Stollen, den Waschkauen und beim Ein- und Ausfahren, wenn sich Dutzende Menschen in einer Transportkabine drängen, bleibt auch bei reduzierten Schichten hoch. Hinzu kommt: Solidarität und Nähe sind in der Region ein historisch tief verwurzeltes Lebensgefühl. Das geforderte Abstandhalten bei der Seuchenbekämpfung fällt da doppelt schwer.
Tadeusz Grzenia hatte die Katastrophe deshalb bereits nach der ersten Ansteckungswelle kommen sehen. „Die Kumpel versuchen sich an die vorgeschriebenen Prozeduren zu halten, aber die Arbeitsbedingungen unter Tage stehen dem einfach direkt entgegen“, hatte der Träger des zweithöchsten polnischen Verdienstordens Anfang Mai gewarnt. Grzenia ist in Polen so etwas wie eine Bergbaulegende. Zu Zeiten der kommunistischen Volksrepublik arbeitete er in der aktuell so hart getroffenen Zeche Zofiowka und führte dort in den 80er Jahren den Kampf der Solidarnosc-Opposition an. Den Behörden wirft er vor, in der Corona-Krise viel zu spät und viel zu zaghaft gehandelt zu haben.
Auch andere Fachleute wie der ehemalige Bergbauminister Jerzy Markowski sind überzeugt, dass man alle Zechen viel früher hätte schließen müssen. Komplett und für einen längeren Zeitraum. „Dann wäre das Thema nach sechs Wochen erledigt gewesen.“Dem stehen jedoch wirtschaftliche und politische Interessen in der teilweise staatlichen Kohleindustrie entgegen, wie das Beispiel Bytom belegt. In der Revierstadt schlossen die Behörden Anfang Mai nach einem massenhaften Corona-Ausbruch die Großzeche Bobrek. Doch schon nach wenigen Tagen durften 1500 negativ getestete Kumpel unter verschärften Hygieneregeln wieder einfahren. Eine solch schnelle Shutdown-Lockerung war nicht nur in Polen einzigartig.
Das rasante Wiederanfahren der Produktion in Bytom zeigte, dass es in Oberschlesien um mehr geht als um Seuchenbekämpfung. Es geht um die Frage, ob das Herz des Reviers, die Kohleförderung, nach einer großen Vergangenheit noch eine Zukunft hat. Denn die gesamte Branche befindet sich seit Jahren im Niedergang, obwohl Polen noch immer rund drei Viertel seines Energiebedarfs aus Kohle deckt. Allerdings ist die Produktion zu teuer. Inzwischen importiert das Land sogar Kohle vom ungeliebten Nachbarn Russland und von Billiganbietern in Übersee. Vor allem aber wächst der Druck, die europäischen Klimaschutzziele zu erreichen. Smog ist in vielen polnischen Regionen ein chronisches Problem, mit dem sich viele Menschen nicht länger einfach abfinden wollen. 33 der 50 am stärksten von Luftverschmutzung betroffenen Städte Europas liegen in Polen.
„Das kann auf Dauer keine Partei ignorieren“, sagt Patryk Bialas, der als einziger grün-liberaler Politiker im Stadtrat von Katowice sitzt und dort einen schweren Stand gegen die traditionell kohlefreundlichen Parteien hat. Insbesondere gilt das für die nationalkonservative PiS, die seit 2015 in Warschau regiert. Nach dem geltenden energie- und klimapolitischen Entwicklungsplan will sie den Anteil der Kohle am polnischen Energiemix im laufenden Jahrzehnt auf 60 Prozent verringern. Das dürfte allerdings bei weitem nicht ausreichen, wenn die EU-Kommission sich mit ihrem „Green Deal“durchsetzen sollte, der unter anderem CO2-Neutralität bis zur Jahrhundertmitte vorsieht.
In Warschauer Regierungskreisen ist das Problem erkannt. Premier Mateusz Morawiecki erklärte nach seiner Wiederwahl 2019, es werde sich für Polen „nicht auszahlen, die Entwicklung hin zu mehr erneuerbaren Energien zu verzögern“. Zudem leitet mit Jadwiga Emilewicz nicht nur eine junge, als moderne grüne Konservative geltende Frau das Ministerium für wirtschaftliche und technische Entwicklung. Emilewicz stieg vor wenigen Wochen auch zur stellvertretenden Regierungschefin auf. Wiederholt hat sie sich zu einem deutlichen Ausbau der E-Mobilität in Polen und zu einem möglichst CO2-neutralen Umbau der gesamten Wirtschaft bekannt hat. Kann ihr die Corona-Krise dabei vielleicht sogar helfen?
Klar ist schon jetzt, dass der dauerboomenden polnischen Ökonomie zum ersten Mal seit der Jahrtausendwende eine schwere
Rezession bevorsteht. Die EU-Kommission prognostiziert einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um 4,3 Prozent im laufenden Jahr. Ob die angeschlagenen Kohleförderer in Oberschlesien diesen Einbruch überstehen können, erscheint fraglich, obwohl die Regierung alle nötigen Hilfen versprochen hat. Vizepremier Sasin versicherte, die Pandemie dürfe kein Vorwand sein, Gruben früher zu schließen als geplant. Sein Ziel sei es, dass keiner der rund 80.000 Bergleute in Polen wegen der Krise seine Arbeit verliere. Während der aktuellen Zechenschließungen erhalten die Kumpel vollen Lohnausgleich vom Staat.
Allerdings stehen politische Bekenntnisse und Regierungshandeln in Polen derzeit unter Kampagnenvorbehalt. Die wegen der Corona-Krise verschobene Präsidentenwahl findet am 28. Juni statt. Alle Parteien sind daher bereits im Wahlkampfmodus. Und klar ist auch: Zehntausende Bergleute mit ihren Familien, mit denen das Herz einer Metropolregion schlägt, sind eine extrem wichtige Wählergruppe. Daher wird sich wohl frühestens im Herbst zeigen, ob und wie stark der Corona-Ausbruch in Oberschlesien den kaum aufzuhaltenden Niedergang des polnischen Bergbaus beschleunigt hat.