In Russland sind Millionen auf Hilfe angewiesen
Privat finanzierte Wohlfahrtsorganisationen springen ein, wo der Staat versagt. Zum Glück spenden viele Russen bereitwillig.
MOSKAU „Es sieht düster aus. Wir stehen vor einem sozialen Desaster“, meint Dmitri Aleschkowski. Bis Jahresende drohe Russland nach der Corona-Pandemie eine Welle von zehn Millionen Arbeitslosen, fürchten russische Ökonomen. „Mit den 20 Millionen Bürgern, die bereits unter dem Existenzminimum lebten, wächst die Zahl der Hilfsbedürftigen auf 30 Millionen“, sagt Aleschkowski.
Der 35-jährige ist eine Art Wohlfahrtsunternehmer und weiß, wovon er spricht. 223 Organisationen und private Initiativen zählten vor der Corona-Krise zu seinem Hilfsfonds. Inzwischen sind noch 80 Einrichtungen dazugestoßen. Früher versorgten die Helfer im Monat etwa 100.000 Bedürftige mit Lebensmitteln, Medikamenten und Kleidung, erzählt Aleschkowski, der früher als Journalist und Fotograf bei der staatlichen Agentur Tass gearbeitet hat. Heute leitet er den Hilfsfond „Pomoschtsch nuschna“(Hilfe nötig). Pomoschtsch zählt zu den zehn größten russischen Wohlfahrtseinrichtungen.
Das Spendenaufkommen in Russland kann sich sehen lassen. Mehr als 250.000 Gönner hinterlassen monatlich einen Obulus bei Pomoschtsch. Meist kleinere Beträge von 200 Rubel (2,50 Euro). Das Prinzip basiere auf geringen, jedoch regelmäßigen und sehr vielen Spenden, meint Aleschkowski. Im Juli 2012 organisierte er Hilfe für die Opfer der Flutkatastrophe im Krymsk, bei der 170 Menschen ums Leben kamen. Er kümmerte sich um den Einsatz der mehr als 1000 freiwilligen Helfer und versorgte die Menschen in der überfluteten Kaukasusregion mit Kleidung und Nahrung. Das war auch der Startschuss für die Initiative „Hilfe nötig“.
„Spenden ist bei uns sehr verbreitet“, sagt er. Die Russen seien alles andere als knausrig. Seit der Corona-Krise sei die Spendenbereitschaft sogar noch gestiegen: „Unser Fonds ist transparent, wir legen über jeden Rubel Rechenschaft ab“. Das mache wohl auch den Unterschied zur Bürokratie aus, vermutet er. Ein Russe verlasse sich ungern auf den Staat, er traue nur sich selbst, fasst Aleschkowski das weit verbreitete Misstrauen zusammen.
Ohne Unterstützung aus der Zivilgesellschaft sei die Betreuung der Schwächeren ohnehin nicht mehr möglich. Corona habe die Abhängigkeit des Staates von den Initiativen noch einmal verstärkt. Das sei auch eine Chance, hofft Aleschkowski: Die Gesellschaft organisiere sich selbst und könne sich selbstbewusster einmischen. Doch bis dahin sei es noch ein langer Weg. „Du musst ein Held sein, um dich über Wasser zu halten“. Überleben sei in Russland ein ständiger Kampf. Schon die Schriftsteller Dostojewski und Nikolai Gogol beschrieben im 19. Jahrhundert den zermürbenden Kampf des kleinen Mannes um elementare Bedürfnisse. „Das ist Russlands Tragödie bis heute“, meint Aleschkowski.
Nur wenige Anlaufstellen gibt es in Russland für Menschen in Not.
Wer Hilfe suche, müsse sich oft erniedrigen. Dies erklärt er mit dem geringen Wert eines Menschenlebens in Russland. Dennoch, in der Krise bewegt sich etwas. Im Mai wurde ein Gesetz verabschiedet, das Zahlungen an Wohlfahrtseinrichtungen von der Steuer abzugsfähig macht. „Eine tektonische Verschiebung, ein gigantischer Schritt, der in Zukunft Hilfsorganisationen Milliarden Rubel verspricht“, jubelt Aleschkowski.
Und noch etwas freut ihn: Der verzweifelte junge Mann, den er erst neulich in einer Unterkunft seiner Organisation unterbringen konnte, sei schon wieder ausgezogen. Er habe Arbeit gefunden. Das seien kleine Lichtblicke. Dennoch sei das Leben „365 Tage im Jahr für viele Menschen in unserem Land eine humanitäre Katastrophe“, sagt er kategorisch. Als Fotograf habe er viele Elendsviertel der Dritten Welt gesehen. Doch ganz ähnlichen Zuständen sei er auch in der russischen Provinz begegnet ob in Murmansk, Tschita oder Twer.