Nosferatu und die Sonderkommission
Mit der gleichnamigen Krimiserie spielt Wismar eine Dauerrolle im ZDF. Doch die Filmgeschichte der Hansestadt beginnt schon viel früher.
„Durch dieses Tor kam das Grauen in die Stadt.“Ein Satz wie ein Hammerschlag, mit dem Ilse Zintner ihr Publikum quasi am Schlafittchen packt. Einen Moment noch lässt die eloquente Stadtführerin ihr Grüppchen zappeln, dann spult sie die gruselige Story ab. Vom dämonischen Grafen Orlok, einem Vampir aus den Karpaten, der in Liebe zur schönen Ellen entbrennt und blankes Entsetzen über ihre Heimatstadt Wisborg bringt.
An Bord der „Empusa“nämlich transportiert Orlok mit „gottverfluchter Erde“gefüllte Särge. Nach und nach stirbt die Besatzung an einer mysteriösen Krankheit. Die letzten Matrosen öffnen daraufhin einen Sarg, aus dem eine Horde Ratten entweicht. Als der Segler schließlich in Wisborg einläuft, ist nur noch Orlok am Leben. Einen Sarg unterm Arm und die Ratten im Schlepptau, wandelt der Graf durch die nächtliche Stadt. Und bringt ihr eine tödliche Krankheit: die Pest.
1921 gedreht, ging diese Adaption von Bram Stokers Dracula in die Filmgeschichte ein. Mit „Nosferatu – eine Sinfonie des Grauens“schuf Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau einen Horror-Klassiker, der seinerzeit manchen Zuschauer so verstörte, dass er Max Schreck in der Hauptrolle des Blutsaugers mit den spitzen Zähnen und den langen Klauen für einen echten Vampir hielt. Ein Meilenstein der Kinokunst jedenfalls, dessen visuelle Gestaltung das Grusel-Genre nachhaltig prägte.
Zur Kulisse für das fiktive Wisborg erwählte Murnau die altehrwürdige Hansestadt Wismar. Und auch noch heute lässt sich gut nachvollziehen, was den Filmemacher hier so faszinierte. Das umwerfende Panorama vom Hafen etwa mit gleich drei roten Hünen, wie die gigantischen Backsteinkirchen der Hansezeit ehrfurchtsvoll genannt werden: Linkerhand die Nikolaikirche, die wie eine mächtige Glucke über den Dächern brütet. In der Mitte der markante Signalmast von St. Marien. Und rechts davon das gotische Gebirge der Georgenkirche, in das die Dresdner Frauenkirche glatt zweieinhalbmal hineinpassen würde.
Gleich hinterm Hafen, in dem manch Fischer und sine
Fru Räucherfisch verkaufen, wie er frischer nicht sein kann, breitet sich die Weltkulturerbe-Altstadt aus. Ein 76 Hektar großes Flächendenkmal mit 1500 Häusern, von denen 400 nochmals Einzelschutz genießen. Auf der Grube, einem kleinen Kanal, schipperten die Kaufleute des Mittelalters ihre Waren in die Lagerhäuser und Speicher der nördlichen Altstadt. Auf der Schweinsbrücke ließen sie buchstäblich die Sau raus – denn über diese trieben sie ihr Borstenvieh, woran vier wirklich entzückende Bronze-Säue erinnern. Und auch der Marktplatz mit Wasserkunst und Kultlokal „Alter Schwede“sieht noch immer fast so aus wie zu Murnaus Zeiten.
Dann aber – im romantischen Hof der Heiligen-Geist-Kirche – trifft Vampir plötzlich auf Polizei, alte Filmkunst auf modernes Fernsehen. Denn dieser Ort ist Serienfans bestens bekannt – als Eingang zur Wache der SOKO Wismar. Seit Oktober 2004 und inzwischen in siebzehnter Staffel lösen ihre Ermittler jede Woche einen frischen Fall von Mord und Totschlag, der Krimifans Gänsehaut verschafft und der Stadt Tourismuswerbung pur. Kein Wunder also, dass sich die freitägliche SOKO-Führung längst zum populärsten Stadtrundgang gemausert hat.
Und so springt die Fachfrau nun auch ganz mühelos von den Untaten des Untoten zu den Toten und Tatorten der Serie und erfreut ihre Gäste mit Anekdoten und Episoden aus der SOKO-Historie: Wo fanden die spektakulärsten Verfolgungsjagden statt? Wo wurde
der Brautschleier zur Mordwaffe? Wo die Wahrsagerin umgebracht? Wo die Wasserleiche gefunden? Wo die Oma mit Pralinen vergiftet? Wo der Tresor ausgeraubt? Wo die Toilette in die Luft gesprengt? Sie erklärt, welche Gebäude oder Läden fürs Fernsehen „umfunktioniert“wurden. Sie zeigt, wo die Hauptdarsteller während der Dreharbeiten wohnen. Und sie trägt stolz die originale Uniform-Jacke der Schauspielerin Li Hagman, die bis zur zwölften Staffel die finnische Austauschpolizistin Leena Virtanen spielte
– ein Geschenk der Filmcrew an die Stadtführerinnen.
„Selbstverständlich hat es auch einen Film zu Nosferatu gegeben“, erklärt Frau Zintner, „ausgestrahlt als Folge 16 in Staffel 5 am 4. Februar 2009.“Dann spult sie wie aus der Pistole geschossen den rotenFaden der rätselhaften Handlung ab, bei der handgeschriebene Briefe von Murnau und ein Nosferatu-Bilderzyklus eine Rolle spielen. Ob letztlich aber wirklich ein Vampir den Mord begangen hat, lässt sie vielsagend lächelnd offen.