Der kölsche Franziskus
Vor seiner Kirche weht die Regenbogenflagge, im Kirchenkeller gibt es eine Fahrradwerkstatt und eine Kleiderkammer – und der Gottesdienst startet erst, wenn genug Zeit fürs Frühstück war. Zu Besuch bei Pfarrer Franz Meurer in Köln.
KÖLN Der wohl bekannteste Pfarrer Kölns hat viele Spitznamen. Franz Meurer ist der „kölsche Franziskus“, „Don Camillo aus Vingst“oder der „Ghetto-Prediger“. In seiner Kirche lehnen Fahrräder in allen Größen an der Wand, direkt unter der Mutter Gottes, die gütig lächelt. „Alles Spenden“, sagt Meurer. „Da sind prima Dinger dabei.“Die Räder werden in einer eigenen Fahrradwerkstatt wieder hergerichtet und verschenkt, meist an Kinder und Jugendliche, deren Familien sich keine Fahrräder leisten können.
Im Keller von St. Theodor gibt es nicht nur die Werkstatt, sondern auch eine Kleiderkammer und eine Essensausgabe. Franz Meurer ist seit 28 Jahren Pfarrer der Gemeinde Höhenberg/Vingst in Köln. „Das Grundproblem unseres Viertels ist: Hier leben 26.000 Menschen dicht zusammen – und leider ist es der ärmste Teil von Köln“, sagt der 68-Jährige. 26 Prozent der Haushalte sind überschuldet, 42 Prozent aller Kinder hier sind von Armut betroffen. Eigentlich organisiert die Gemeinde im Sommer eine riesige Ferienfreizeit für sie, „Hövi-Land“, mit Spielen, Workshops und Ausflügen.
Mehr als 600 Mädchen und Jungen sind jedes Jahr dabei. „Praktisch alle Kinder aus dem Viertel“, sagt der katholische Pfarrer. Wegen Corona durften in diesem Sommer nur 210 mitmachen. Aus Hövi-Land wurde Hövi-Dorf. „Statt drei Wochen konnte eigentlich jedes Kind nur eine Woche mitmachen; aber manche haben anderen freiwillig noch eine zweite Woche abgetreten.“Die Gemeinschaft funktioniert hier oft gut. Und viele Kinder, die früher in der Ferienfreizeit waren, engagieren sich heute als Betreuer.
Meurers Kirchen St. Theodor und St. Elisabeth sind offene Häuser. Jeder, der sich in der Gemeinde engagiert, hat die Schlüssel zu allen wichtigen Räumen. „Und wer hier hauptamtlich arbeitet, bekommt einen kleinen Bus, dann hat man kein Gedöns und kann Leute transportieren oder Möbel oder Rollstühle. Wir denken immer von den Menschen aus, nicht von der Institution Kirche. Was hilft den Leuten?“Eine Kirche, die den Menschen nichts bringe, sei nutzlos, sagt Meurer.
Als die Polizei vor ein paar Jahren zu ihm sagte, man müsse etwas gegen das Drogenproblem im Viertel tun, zog er innerhalb einer Woche eine Drogenberatung hoch – im Kirchturm. Und er hängte einen Automaten für die Drogenabhängigen an die Kirche, den der Apotheker mit sauberen Spritzen bestückte. „Das Zeug lag vorher auf dem Spielplatz, das geht doch nicht“, sagt er. Meurer nennt seine Helfer „unsere Leute“.
Sie bepflanzen jedes Frühjahr 1000 Blumenkübel in den Straßen und hängen zu Weihnachten leuchtende Sterne an den Laternen auf. „Wo Armut herrscht, darf es nicht ärmlich aussehen“, sagt Meurer. Er möchte, dass die Menschen sich in Höhenberg und Vingst zu Hause fühlen – und Verantwortung übernehmen. Vor manchen Häusern haben die Bewohner inzwischen eigene Blumen gepflanzt. „Das freut mich dann, da geht mir das Herz auf.“In der Gemeinde gab es schon
Hundekottüten, als die Spenderautomaten im Rest von Köln noch gar nicht zur Debatte standen. Meurer hatte sie in Russland bestellt.
Der Arbeiterpriester, wie Meurer auch genannt wird, ist immer für alle ansprechbar. Zurzeit finanziert er einer jungen Mutter den Führerschein. Die Fahrschule rief an und meinte: „Sie hat schon 31 Fahrstunden, sollen wir weitermachen?“Meurer antwortete: „Das macht ihr doch Spaß, natürlich macht ihr weiter, fragt doch nicht!“Die Frau hatte ihn gefragt, ob er ihr mit dem Führerschein helfen könne. Manchmal melden sich auch besorgte Angehörige bei ihm. So wie ein Mädchen während des Lockdowns, das Angst hatte, seine Mutter könnte depressiv werden. „Wenn es Probleme gibt, bin ich immer zu erreichen“, sagt Meurer. „Aber wenn mich Leute nur zum Plaudern anrufen, merke ich das schnell, dafür fehlt mir die Zeit, ich gehe auch nicht zu Kaffeekränzchen.“
Meurer nimmt sich auch Zeit für sich. Er liest dann, und wenn keine frühe Beerdigung ansteht, geht er schwimmen. „60 Bahnen, dann Rückenstrahl und Sprudelbad.“
Es gibt ein paar Wohnungen im Viertel, in denen Studenten umsonst leben dürfen – dafür helfen auch sie mit, geben etwa Flüchtlingen
Sprachunterricht. „Das Erzbistum hat einen Riesenfehler gemacht, seine Studentenwohnungen zu verkaufen“, sagt Meurer. „Wenn man auf dem Markt bleiben will, kann man sowas nicht machen. Man muss den jungen Menschen nutzen. Und dadurch haben wir hier viele junge, engagierte Leute.“
Vor St. Theodor weht die Regenbogenflagge als Zeichen der Toleranz – oder wie Meurer sagt: „Weil vor kurzem Christopher Street Day war.“Ein Mitglied des Pfarrgemeinderates lebt seit vielen Jahren mit dem evangelischen Pfarrer in der Gemeinde in einer homosexuellen Beziehung. „Religion darf nicht das Leben verneinen“, sagt Meurer. Die katholische Kirche müsse dringend ihre Lehre zur Homosexualität ändern. Deshalb wurde die Flagge aus Protest auch im vergangenen Jahr vor Meurers Kirche gehisst, nachdem ein leitender Priesterausbilder des Erzbistums Köln in einem Vortrag von Therapieformen für Schwule gesprochen und gleichgeschlechtliche Liebe unter Männern als „narzisstische Suche nach Männlichkeit“bezeichnet hatte.
Pfarrer Meurer arbeitet sowohl mit der muslimischen als auch mit der evangelischen Gemeinde zusammen. „Ökumene ist doppelt so gut und halb so teuer“, sagt er. Die meisten im Viertel sind aber ohnehin weder katholisch noch evangelisch, sondern eben Muslime, Jesiden, Sikhs – oder gar nicht gläubig. Spielt für Meurer keine Rolle. Wer will, ist in seinem Gottesdienst willkommen. Der beginnt sonntags aber immer erst um 11. „Damit alle ausschlafen und in Ruhe frühstücken können“, sagt er. 2007 ließ Meurer in der Sonntagsmesse den Klingelbeutel mit der Bitte um Kollekte für die Kölner Großmoschee herumgehen, deren Bau damals gerade geplant wurde – eine solche Aktion hatte es bis dahin noch nie gegeben, sie sorgte bundesweit für Aufsehen. Meurer war auch in der Presse, als er zweimal vor Gericht stand. Er hatte Wahlplakate der rechtsextremen Bürgerbewegung Pro Köln in seinem Viertel abgerissen. „Kein Veedel für Rassismus!“steht heute auf einem Banner, das im Fenster von St. Theodor hängt.
Drüben, in St. Elisabeth, sperrt ein Mann mit langen Rastalocken einen Nebeneingang der Kirche zu. „Sehen Sie“, sagt Meurer. „Der hat auch einen Schlüssel, den kenn ich gar nicht.“Er winkt dem Mann zu und grüßt. Dann erkennt Meurer ihn – es ist der Gospelsänger Ron White, der im Gottesdienst auftreten wird. White ruft: „Ich freu mich schon auf Sonntag!“