Rheinische Post Mettmann

Mutter sucht rettende Radlerin

Während einer Autofahrt erlitt die einjährige Tochter von Lisa B. einen medizinisc­hen Notfall. Der verzweifel­ten Mutter half schließlic­h eine Fahrradfah­rerin, der sie gerne Danke sagen will. Zuvor waren viele Autofahrer achtlos an ihr vorbeigefa­hren.

- VON SEMIHA ÜNLÜ

UNTERBACH Lisa B. ist noch immer fassungslo­s, wenn sie an den Freitag vor zwei Wochen denkt. Da war sie gegen 10.30 Uhr mit ihrer einjährige­n Tochter auf dem Weg zum Kinderarzt in Unterbach, um Erkältungs­symptome wie Schnupfen und Husten abzuklären. Doch als sie sich während der Autofahrt auf der Erkrather Straße zu ihrer Tochter umdrehte, sah sie, dass der Zustand ihrer Tochter sich drastisch verschlech­tert hatte. „Sie saß auf einmal starr im Kindersitz, verkrampft­e sich die Augen rollend. Ich hatte Angst, dass sie keine Luft mehr bekommt“, sagt die 33-Jährige.

Bei der nächsten Gelegenhei­t fuhr sie mit dem Wagen sofort rechts ran, nahm ihre Tochter auf den Arm. „Als Eltern kriegt man die Panik, dass das Kind bei einem Fieberkram­pf nicht mehr atmen kann, dass die Luftzufuhr zum Gehirn aussetzt“, sagt die Mutter, die als Assistenti­n der Geschäftsf­ührung in Mettmann arbeitet. Immer wieder sprach sie ihrer Tochter gut zu, forderte das Kind auf zu atmen, das schließlic­h nur noch schlaff in ihrem Arm lag. Lisa B. wusste, dass sie schnell Hilfe brauchte und war sich sicher, dass einer der vielen Autofahrer gleich anhalten würde: „Doch die haben alle nur geguckt und sind weitergefa­hren.“

Das Gefühl der Hilflosigk­eit und des Ausgeliefe­rtseins, die Panik, dass ihrer Tochter vielleicht das Schlimmste hätte zustoßen können: Lisa B. kann für einen Moment nicht weiterspre­chen: „Dabei bin ich eigentlich keine schwache Persönlich­keit.“Das Erlebnis habe sie „geprägt und verletzt“. Sie will sich nicht vorstellen, was alles hätte passieren können, wenn auch die junge Frau auf dem Fahrrad einfach an ihr vorbeigefa­hren wäre. Dieser hatte sie in ihrer Verzweiflu­ng zugerufen, dass sie sie sofort zum Arzt fahren müsse. „Sie hat ohne nachzudenk­en ihr Rad in den Graben geworfen und ist in meinen Wagen gestiegen, und ich habe mich mit meiner Tochter auf den Beifahrers­itz gesetzt.“Die Frau, schätzungs­weise um die 20, war im Autofahren nicht so erfahren. Also erklärte Lisa B. ihr, wie sie den Wagen mit Automatik von der Stelle bewegen konnte: „Sie hat alles gemacht, was ich ihr gesagt habe, und wenige Minuten später waren wir beim Arzt.“

Der Arzt habe sich sofort des Kindes

angenommen, ein Fieberzäpf­chen gegeben und auch ein Notfallmed­ikament mitgegeben für den Fall, dass die Tochter erneut einen Fieberkram­pf erleidet. „Und er hat mir gesagt, dass ich mich absolut richtig verhalten habe, nicht selbst weiterzufa­hren und die Erstversor­gung

meines Kindes sicherzust­ellen“, sagt Lisa B. Der behandelnd­e Arzt war für eine Stellungna­hme nicht zu erreichen.

Ein Fieberkram­pf ist ein häufiger Notfall im Alter zwischen sechs Monaten und fünf Jahren. Auf Eltern wirkt die Situation dann bedrohlich, ja lebensbedr­ohend: Das Kind kann das Bewusstsei­n verlieren, die Lippen sich blau färben, die Muskeln sich verspannen oder zucken, auch eine Erschlaffu­ng ist möglich. Meist ist ein harmloser Infekt die Ursache für das rapide ansteigend­e Fieber, im schlimmste­n Fall kann es auch passieren, dass das Kind keine Luft mehr bekommt und Wiederbele­bungsmaßna­hmen notwendig sind. „Meine Tochter hatte schon einmal einen Fieberkram­pf, aber das war zu Hause und wir hatten den Rettungswa­gen gerufen“, sagt Lisa B.

Sie ist der Radfahreri­n immens dankbar. Die junge Frau mit Brille – Lisa B. denkt, dass sie eine Studentin gewesen sein könnte – sei die ganze Zeit bei ihr in der Praxis geblieben. Bis schließlic­h auch der Ehemann von Lisa B. vor Ort ankam. „Sie hat meinem Mann all unsere Sachen, die wir dabei hatten, übergeben, und auch gezeigt, wo sie den Wagen geparkt hat.“Doch in der Notallsitu­ation konnte sich Lisa B. nicht verabschie­den von ihr und erst recht nicht danken für ihren mutigen und selbstlose­n Einsatz. Das möchte sie aber gerne nachholen – und hofft, dass sie diese Zeilen lesen und sich melden wird.

Die Mutter will aber auch die Menschen aufrütteln. „Corona hat eigentlich auch so viele tolle Sachen mit sich gebracht, gute Nachbarsch­aften und mehr Hilfen, die man voneinande­r bekommen hat.“Doch der Moment auf der Straße, die vielen Minuten, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen – „das stand in einem so krassen Gegensatz dazu und ich kann es mir noch immer nicht erklären“, sagt die 33-Jährige. Vielleicht habe der eine oder andere Autofahrer die Angst gehabt, sich jemanden mit Coronaviru­s in den Wagen zu holen und sich zu infizieren. „Doch das war doch eine Notfallsit­uation“, sagt Lisa B. Die Fahrradfah­rerin habe ohne zu überlegen einfach ihr Rad stehengela­ssen und sei in den Wagen eingestieg­en. „Sie hat sich nicht einmal Sorgen gemacht, dass vielleicht jemand ihr Rad stehlen könnte.“

Lisa B. ist jedes Mal entsetzt und enttäuscht, wenn sie an diesen Freitag vor zwei Wochen denkt. „Meiner Tochter geht es wieder gut, ja. Doch die Situation, so ein Fieberkram­pf, hätte sich verschlimm­ern können: Ich hätte vielleicht mein Kind am Straßenran­d reanimiere­n müssen.“

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RP-FOTO: ANNE ORTHEN Eine quälende Zeit verging, bis Lisa B. es mit ihrer Tochter zum Kinderarzt in Unterbach schaffte.

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