Dorf-Idylle im Bergischen
Kontaktbeschränkung, Schließungen und weitere Corona-Regeln – viele Hobbys, Freizeitaktivitäten und Tagesausflüge sind momentan nicht mehr möglich. Unser Vorschlag: Machen Sie aus der Not eine Tugend und lernen Sie den Kreis Mettmann besser kennen. Heute:
HAAN Wer mit Wolfgang Stötzner spazieren geht, fühlt sich, als wäre er selbst Teil des Dorfes. Nahezu jeder Bewohner von Gruiten-Dorf, der den Besuchern beim Rundgang durch den historischen Ort begegnet, kennt den Vorsitzenden des Bürger- und Verkehrsvereins. Stötzner grüßt freundlich, zuerst seinen Vereinskollegen vom BVV, der gerade die Wassertretanlage säubert. Dann den Inhaber des „Wiedenhofs“, später den ehemaligen Wirt des „Schwans“. Und auch alle weiteren Bewohner, die aus ihren hübschen Fachwerkhäusern kommen oder mit Hund, Rad oder Pferd auf dem Kopfsteinpflaster unterwegs sind. Er und die Gäste an seiner Seite werden freundlich zurückgegrüßt, teils sogar mit einem Kaffee zum Mitnehmen. Diese Herzlichkeit wärmt ebenso wie die Sonnenstrahlen, die in der ersten warmen Woche des Jahres den Ort in voller Pracht erstrahlen lassen.
1. Wer am Startpunkt der Wanderung vor dem Schaukasten steht, sollte sich zunächst einmal in Richtung Dorf umdrehen. Von hier schweift der Blick vom wunderschön hergerichteten Hof Klutenberg links über das Dorf bis hin zu den zwei Kirchtürmen, die unter anderem das Dorfbild prägen. Der für diese Wanderung ausgewählte Weg – ob geführt oder auf pandemiebedingt auf eigene Faust – führt die Pastor-Vömel-Straße hinab, bis links das Gebäude „Am Doren“erscheint. Doren, das bedeutet so viel wie Tor oder Eingang, bot dieser Weg doch einst den einzigen Zugang zum Ort, denn Gruiten war ein Sackgassendorf. Das Fachwerkhaus wurde bereits 1675 erbaut, die Straße war sehr schmal. Kaum zu glauben, dass von 1930 bis 1952 Oberleitungsbusse diesen Weg passierten: Durch den Ort führte der erste Oberleitungsbus Deutschlands; von Mettmann bis zum Gruitener Bahnhof und zurück. Die sechs Kilometer lange Strecke wurde aufgrund ihrer vielen Kurven und Steigungen als Teststrecke für derartige Busse ausgewählt.
2. Wenn ein Gast des „Schwans“, einer der früher noch viel zahlreicher als heute vorhandenen Gastund Schankwirtschaften, die letzte Fahrt nach Mettmann nicht verpassen sollte, hängte der Schwanen-Wirt als Zeichen für den Busfahrer eine rote Laterne ins Fenster. Der Fahrer kam dann hinein, trank ein Schlückchen und fuhr mit dem Gast weiter. „Einmal“, erzählt Stötzner, „war ein Lehrer zu später Stunde so betrunken, dass er bis zur Endhaltestelle durch- fuhr. In Mettmann fiel dem Busfahrer auf, dass er noch immer einen Gast hatte, der eigentlich auf halber Strecke wohnt. Also fuhr den ganzen Weg nach Gruiten noch einmal, fuhr dann erneut nach Mettmann und ließ den Lehrer auf dem zweiten Weg raus – drehen konnten die Oberleitungsbusse ja nicht.“
3. Aus einem Fenster des „Wiedenhofs“steckt während des Rundgangs Dominik Winter den Kopf und ruft: „Wollt ihr einen Kaffee?“. Der Inhaber des Restaurants „Palazzo im Wiedenhof“serviert draußen und mit Abstand Kaffee und Wasser „to go“, ebenso wie er derzeit mit immer neuen Ideen Essen aus seiner kreativen Küche zum Mitnehmen anbietet. In Wolfgang Stötzners Kindheit kauften die Kinder hier ihr Eis, außerdem betrieb der damalige Wirt ein kleines Kino.
4. Die katholische Kirche, ein Stück weiter die Pastor-Vömel-Straße entlang, ist doch tatsächlich eines der jüngeren Gebäude im Ort, erbaut 1877-1879 im neoromanischen Stil vom Architekten G.A. Fischer, der auch Schloss Burg wiedererbaut hat. Ihre Glocke blieb von den Einschmelzaktionen des Krieges verschont. Sie stammt aus der früheren Kirche des Dorfes und ist mehr als 500 Jahre alt.
5. Die evangelisch-reformierte Kirche, das Predigthaus und das Pfarrhaus bilden als Gebäudeensemble ein Highlight des Dorfbildes. Die reformierte Kirche liegt tiefer als die katholische, um – den tiefen Gräben zwischen Katholiken und Protestanten in der damaligen Zeit Rechnung tragend – genügend Abstand zum katholischen Gebäude zu wahren, um den Pfarrer nicht zu „stören“. Das schmucke Innere der Kirche ist in jedem Fall einen Besuch wert. Und auch hierzu hat Wolfgang Stötzner eine Anekdote parat: Ein ehemals katholischer Pfarrer konvertierte und wurde evangelisch-reformierter Pastor, nachdem er in der „neuen“Kirche wunderbare Predigten gehört hatte.
6. In der Kircher Schmiede, der ehemaligen Dorfschmiede – früher lebten, arbeiteten und starben die Menschen im gleichen Ort, in dem sie auch geboren wurden, somit war die Nahversorgung sowohl mit Lebensmitteln als auch mit Werkzeugen, Textilien und Co. exzellent – erklingt heute nach einiger Zeit Pause wieder der Amboss.
7. Völlige Ruhe und einen großartigen Blick auf das Dorf bietet der erhöhte Platz des Alten Kirchturms, umgeben von einer Ringmauer, in deren Innern der Friedhof liegt. Die kleine Kirche in der Mitte wurde im 11. Jahrhundert erbaut und 1894 wegen angeblicher Baufälligkeit abgerissen.
8. Der berühmte Heilpraktiker Jacob Lauterbach lebte im Doktorshaus, damals wie nach aufwändigen Renovierungsarbeiten in den 1980er Jahren auch heute dem vielleicht prächtigsten Gebäude des Dorfes. In seinem Garten warteten oft 100 Patienten gleichzeitig auf eine Audienz. In der Nähe hat der Bürger- und Verkehrsverein durch jahrelanges Engagement die einzige Wassertretanlage an der Düssel initiiert: Hier lässt es sich herrlich Wasser treten und danach am Ufer entspannen. Die gepflegte Anlage ist sehr beliebt, selbst Kneipp-Vereine haben bereits Interesse geäußert.
9. Ehemals Stampf- und Steinmühle, diente die Heinhauser Mühle später als Kantine für die Arbeiter des Kalksteinbruchs Heinhauser Löh, wie der Kalkabbau überhaupt eine bedeutende Rolle für Gruiten spielt. So zeigt auch Gruitens Wappen Felswand und Spitzhacke.
10. Einer der ältesten Höfe Gruitens, seit 1448 urkundlich belegt, ist Ursprung des „Hauses Am Quall“. Der Grundbesitz dieses reichen Hofes erstreckte sich bis nach Mettmann und ebenso weit in die Gegenrichtung. Die Bewohner der einstigen Bauernburg konnten bei drohender Gefahr Wasser „quallen“, also stauen. Heute ist das Gebäude eine außergewöhnliche Event-Location etwa für Hochzeiten.
Stadtspaziergänge bisher: Hilden, Heiligenhaus, Monheim, Wülfrath – nachzulesen unter www.rp-online.de/mettmann