Yörük Isik beobachtet mit seiner Kamera auf Fähren durch die Meerenge von Istanbul Weltgeschichte und kann von dort sogar in die Zukunft sehen.
bis zu Umweltsünden und Tierquälerei reichen die Geschichten, denen Isik am Bosporus auf die Spur kommt. „Wir sehen hier also ein Schiff, und wir sehen einen Container darauf“, erklärt Isik den Prozess am Beispiel von Handfeuerwaffen, die in Osteuropa hergestellt und von manchen Staaten in ihren Stellvertreterkriegen im Nahen Osten eingesetzt werden. „Wir können den Container verfolgen und feststellen, dass er in einem Hafen in Saudi-Arabien umgeladen wird auf ein anderes Schiff, das in den Jemen fährt.“Aus ihren Fotos, Meldungen und Satellitendaten könnten die Osint-Beobachter die Fährte einer Waffe von Serbien oder Bulgarien bis zum Einsatz im Jemen oder in Syrien lesen.
Isik und seine Osint-Gemeinde sind dadurch über aktuelle Entwicklungen der internationalen Politik oft schon früher im Bilde als Politiker und Diplomaten in den Hauptstädten der Welt. „Dass Russland Venezuela gegen die amerikanischen Sanktionen beistehen würde, wussten wir schon lange, bevor das russische Außenministerium es bekannt gegeben hat – weil wir ein mit Weizen beladenes Schiff aus Noworossisk nach Venezuela fahren sahen“, erzählt Isik. „Wir wussten auch als Erste, dass Russland in Syrien militärisch intervenieren würde.“Lange bevor das öffentlich wurde, beobachtete die Osint-Gemeinde, dass russische Schiffe militärisches Gerät nach Syrien brachten.
„Ja, indem man hier einfach auf einer Passagierfähre sitzt und die Augen aufhält, kann man nicht nur analysieren, was in der Welt geschieht, sondern auch vorhersagen, was geschehen wird“, sagt Isik. Eigentlich könnte das jeder machen, meint er – er selbst betreibt es neben seinem Beraterberuf als Hobby, und die Kosten beschränken sich auf die Fahrkarte. Und dennoch gleiten die Schiffe mit ihren weltpolitisch sensationellen Geschichten fast unbemerkt mitten durch Istanbul; kaum einer der 16 Millionen Einwohner sieht richtig hin. Und mehr noch: Manche dienen selbst als Quellen, ohne es zu merken.
„Wir lachen oft darüber“, sagt Isik: Haben er und seine Freunde einmal ein Schiff verpasst, für das sie sich interessieren, dann müssen sie nur Instagram nach Fotos durchsuchen, die zur fraglichen Zeit im fraglichen Abschnitt des Bosporus hochgeladen wurden – und schon haben sie die gewünschten Informationen. „Im Vordergrund der Bilder sieht man dann etwa Leute mit Bierflaschen, eine Verlobungsfeier oder Kinder – und im Hintergrund finden wir das gesuchte Schiff“, erzählt der Schiffsexperte. „Das ist so wie mit diesen lustigen Bildern, wo man hinter lachenden Schwimmern einen riesigen Haifisch auftauchen sieht“, sagt er. „Aber hier in Istanbul ist es wirklich so – da amüsieren sich die Leute am Ufer und merken nicht, wie hinter ihnen Weltgeschichte passiert.“
Denn Weltgeschichte ist es tatsächlich, was da durch die Meerenge kommt – zum Beispiel aus Russland, für das der Bosporus als Tor zum Mittelmeer strategisch wichtig ist. Nicht nur Waffentransporte und Kriegsschiffe aus seiner Schwarzmeerflotte schickt Russland durch Istanbul ins Mittelmeer, sondern neuerdings auch U-Boote. Schon heute sei Russland eine Mittelmeermacht, sagt Isik und erinnert an die Moskauer Abkommen mit dem syrischen Regime, die Russland einen Hafen und einen Luftwaffenstützpunkt in Syrien verschafft haben: „Mit ihren Stützpunkten in Tartus und Latakia sind sie ganz nah an Zypern und bereits direkte Nachbarn der EU.“
Durch den Bosporus pirsche sich Russland nun immer näher an Europa heran, meint Isik. „Russland wartet jetzt nur auf eine Gelegenheit, um mit einem ähnlichen Deal einen Stützpunkt in Libyen zu etablieren – und damit kommen sie dann wieder einen Schritt weiter nach Westen“, sagt der Beobachter. „Wenn sie erst in Libyen sind, dann stehen sie auf der Schwelle des EU-Kerngebiets – das wird ihnen die Tür öffnen.“Und was in Libyen geschieht, das habe immense Bedeutung für die EU, schon als Drehkreuz für den Menschenschmuggel nach Europa. „Ein Stützpunkt in Libyen wird Russland von der Mittelmeermacht zu einer führenden Mittelmeermacht machen“, prophezeit Isik.
Die Fähre gleitet am Sommerpalais des türkischen Staatspräsidenten vorbei, einer Villa aus dem 19. Jahrhundert, die einst dem Vertreter des deutschen Rüstungskonzerns Krupp im Osmanischen Reich gehörte. Isik zeigt auf das Palais am Ufer: Den Bosporus zu befahren, sei wie eine Zeitreise, sagt er, und zwar auf mehreren Zeitschienen zugleich. „Wir sind hier auf dem Bosporus und sprechen über Russland und Waffen, und genau wo wir jetzt sind, am Bosporus und am Palais des deutschen Waffenhändlers, da wurde im 19. Jahrhundert schon über die gleichen Themen geredet.“
Tröstlich finde er das, sagt Isik, denn es verleihe der Tagespolitik eine historische Perspektive über die eigene Lebenszeit hinaus. „Diese Stadt und diese Meerenge waren lange vor uns da, und sie werden auch lange nach uns noch hier sein“, sagt der Bosporus-Beobachter. „Ich mag dieses Gefühl der Koexistenz mit Vergangenheit und Zukunft – ich finde, es befreit uns von der Gegenwart.“