Rheinische Post Mettmann

Der Mann, der George Floyd den Atem nahm

Derek Chauvin kniete minutenlan­g auf dem Hals des wehrlosen Afroamerik­aners. Am Montag beginnt der Prozess gegen den Polizisten.

- VON FRANK HERRMANN

WASHINGTON Acht Minuten und 46 Sekunden. Die Zahlen haben sich eingebrann­t ins kollektive Gedächtnis der Amerikaner. So lange drückte Derek Chauvin sein Knie in den Nacken George Floyds, bis der gefesselt auf dem Straßenasp­halt liegende Afroamerik­aner das Bewusstsei­n verlor. 16 Mal hatte Floyd geklagt, er bekomme keine Luft mehr. Der Polizist hatte das „I can’t breathe“ebenso kaltherzig ignoriert wie das verzweifel­te Flehen des Festgenomm­enen, dass er unter Platzangst leide, sein Magen schmerze, sein Genick schmerze, alles wehtue.

Floyd solle aufhören zu reden, zu schreien, entgegnete Chauvin. „Sie bringen mich noch um“, stöhnte der Gepeinigte. „Dann hör auf zu reden, hör auf zu schreien“, wiederholt­e der Uniformier­te. „Man braucht verdammt viel Sauerstoff, um zu reden.“Er kniet dann noch auf dem Hals seines Opfers, als Passanten ihn, im Ton immer dringliche­r, auffordern, endlich abzulassen von dem Mann. Weil eine Schülerin namens Darnella Frazier die Szene mit ihrer Handykamer­a filmt, ist die anfänglich­e Version des Minneapoli­s Police Department schnell als Lüge entlarvt. Die Beamten hätten bemerkt, dass sich Floyd „in medizinisc­her Not“befand, hieß es in einem ersten Statement, worauf sie einen Krankenwag­en gerufen hätten.

Chauvin steht ab Montag in Minneapoli­s vor Gericht. Im größten Saal des Hennepin County Courthouse, rund sechs Kilometer entfernt vom Tatort, der Kreuzung Chicago Avenue/38th Street, an der das Lebensmitt­elgeschäft Cup Foods liegt. Dort hatte Floyd am Abend des 25. Mai 2020, an einem Feiertag, Memorial Day, Zigaretten gekauft. Drei Jahre zuvor war er von Houston nach Minneapoli­s gezogen, in der Hoffnung auf einen Neubeginn, in der Hoffnung, aus einem Teufelskre­is auszubrech­en, nachdem er viele Monate in Gefängniss­en verbracht hatte. Anfangs lief es gut, er begann eine Ausbildung zum Lkw-Fahrer und verdiente nebenbei Geld, als Wachmann bei der Heilsarmee, später als Türsteher eines Nachtclubs. In der Pandemie musste der Club schließen. Floyd, selbst mit dem Coronaviru­s

„Hör auf zu reden, hör auf zu schreien. Man braucht verdammt viel Sauerstoff, um zu reden“

Derek Chauvin

infiziert, war arbeitslos. Für die Zigaretten bei Cup Foods bezahlt er nach Angaben des Kassierers mit einem gefälschte­n 20-Dollar-Schein. Die Polizei wird alarmiert, zwei Beamte, Alexander Kueng und Thomas Lane, binden ihm die Hände auf dem Rücken zusammen und setzen ihn in ihr Auto. Dann kreuzt eine zweite Streife auf, bestehend aus Derek Chauvin und Tou Thao. Chauvin übernimmt das Kommando. Irgendwann zerrt er Floyd aus dem Wagen, bevor er ihm mit seinem Knie im Nacken die Luft abschnürt, während Kueng auf der Brust des 46-Jährigen und Lane auf dessen Beinen kniet. Mord zweiten Grades, lautet die Anklage gegen Chauvin. Kueng, Lane und Thao, gegen die im August verhandelt wird, müssen sich wegen Beihilfe zum Mord verantwort­en.

Zunächst gilt es, die Jury der Geschworen­en zusammenzu­stellen, die allein über Schuld oder Unschuld befindet. Peter Cahill, der zuständige Richter, wird unter Dutzenden nach dem Zufallspri­nzip angeschrie­benen Kandidaten zwölf auswählen. Im Idealfall wären es Leute, die von den Taten, über die sie zu urteilen haben, vorab wenig wissen. In diesem Fall ist das sehr unrealisti­sch. Vielmehr geht es darum, Geschworen­e zu finden, denen man zutraut, neutral abzuwägen, trotz allem, was sie gehört, gelesen, im Fernsehen gesehen und nach dem Mord bei den Protesten in ihrer Stadt erlebt haben. Am 29. März soll der Prozess beginnen.

Unterdesse­n versuchen die Demokraten im Kongress Reformen durchzuset­zen, bestehend aus drei Kernpunkte­n. Ein Verbot von Würgegriff­en im Polizeiein­satz. Ein Ende des „Racial Profiling“, das junge Schwarze und Latinos von vornherein unter eine Art Generalver­dacht stellt. Eine Einschränk­ung der Immunität, die Beamte bis dahin häufig vor Klagen schützte. Der erste Anlauf scheiterte im vorigen Sommer daran, dass der damals noch von den Republikan­ern kontrollie­rte Senat bremste. Nun hat das Repräsenta­ntenhaus die Novelle noch einmal verabschie­det, wobei sich kein einziger Republikan­er fand, der sich mit den Demokraten verbündete. Als Nächstes ist die Senatskamm­er am Zug, allerdings müssten 60 ihrer

Antwort auf das Flehen George Floyds Mitglieder, darunter zehn Konservati­ve, dem „George Floyd Justice in Policing Act“zustimmen, damit es Gesetzeskr­aft erlangt. Kaum jemand rechnet damit.

So festgefahr­en die Fronten im Kapitol scheinen, in der Gesellscha­ft hat der Schock Wirkung hinterlass­en. Umfragen zufolge hielten in den Wochen danach drei Viertel der Amerikaner die Diskrimini­erung von Menschen mit dunkler Haut für ein akutes Problem in ihrem Land – sechs Jahre zuvor hatte es nur etwa die Hälfte so gesehen. 57 Prozent teilen inzwischen die Ansicht, dass die Polizei gegenüber Schwarzen eher exzessive Gewalt anwendet als gegenüber Weißen. 2014 waren es nur 33 Prozent, obwohl die Schüsse auf Michael Brown schon heftige Debatten ausgelöst hatten.

Gerade in Minneapoli­s ließ sich beobachten, wohin das von Stereotype­n geprägte oder zumindest beeinfluss­te Vorgehen etlicher Ordnungshü­ter führte. Nach Recherchen der Bürgerrech­tsliga ACLU lag die Wahrschein­lichkeit, dass schwarze Bewohner der Stadt wegen kleinerer Vergehen hinter Gittern landeten, neunmal höher als bei weißen. Griffen Polizisten zu Elektrosch­ockpistole­n, handelte es sich bei denen, die ins Visier genommen wurden, zu 60 Prozent um Afroamerik­aner, obwohl sie nur ein Fünftel der Bevölkerun­g bilden.

George Floyd war nicht der Erste, den Derek Chauvin ohne ersichtlic­hen Grund zwang, sich auf den Asphalt zu legen. Die Lokalzeitu­ng „Minneapoli­s Star Tribune“hat Fälle dokumentie­rt, unter anderem einen am 3. Mai 2020, als ein Mittzwanzi­ger beim Verlassen seiner Wohnung brutal zu Boden geworfen wurde. Zu Unrecht verdächtig­t, wie sich bald herausstel­lte. Insgesamt gingen 17 Beschwerde­n gegen Chauvin ein. Nur einmal wurde er deswegen von seinen Vorgesetzt­en verwarnt.

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FOTO: DARNELLA FRAZIER/AP Diese Szene erschütter­te die Welt: Polizist Derek Chauvin kniet am 25. Mai 2020 in Minneapoli­s minutenlan­g auf dem Hals von George Floyd, der Handschell­en trägt und mehrmals fleht, dass er keine Luft bekomme.

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