„Es gibt nicht genug von den Richtigen“
Die Situation ist in vielen Schulen ernst: Vor allem an Grund- und Berufsschulen fehlen Lehrkräfte. Die Programmleiterin für Lehre und akademischen Nachwuchs beim Stifterverband erklärt, wie man dem Lehrermangel begegnen sollte.
Frau Jorzik, häufiger Vertretungsunterricht, ausfallende Schulstunden und ein ganzes Schuljahr ohne Chemie- oder Physikunterricht: Der Lehrermangel wird schon jetzt an vielen Schulen in Deutschland deutlich. Wo ist die Lage besonders ernst?
BETTINA JORZIK Zunächst einmal: Lehrerinnen und Lehrer prägen ganz entscheidend die Lebensläufe der Schülerinnen und Schüler, sie stellen entscheidende Weichen für gesellschaftliche Teilhabe. Gute Lehrkräfte sind das Herzstück des Bildungssystems. Tatsächlich ist die Situation je nach Schultyp und Fach und auch je nach Bundesland und Region sehr unterschiedlich. Klar ist aber: Es fehlen vor allem Lehrkräfte an Grundschulen, für die Sekundarstufe I und an Berufsschulen. Außerdem sind die Mint-Fächer, also Mathematik, Chemie, Physik und Informatik, besonders vom Lehrermangel betroffen, ebenso die gewerblichtechnischen Fächer und auch der künstlerisch-ästhetische Fachbereich. In Städten und Metropolen ist der Lehrermangel nicht so stark ausgeprägt, wie in ländlichen Regionen. Zusammenfassend kann man sagen: Es gibt nicht genug von den Richtigen. Denn in Fächern wie etwa Deutsch und Geschichte für das Gymnasium haben wir mehr als genug Lehrer.
Was sind die Ursachen für den Lehrermangel? Und wie wird es weitergehen an den Schulen?
JORZIK Offenbar waren frühere Prognosen der Schülerzahlen unzutreffend. Unter anderem wurde die Zuwanderung unterschätzt. Es gibt nicht grundsätzlich zu wenig Lehramtsstudierende – aber es entscheiden sich nicht genügend Studierende für die Schulen und Fächer, an und in denen Lehrer dringend benötigt werden. Die Lage wird sich weiter zuspitzen, vor allem in der Sekundarstufe I – das sieht auch die Kultusministerkonferenz so, deren Prognosen eher defensiv sind. Wir brauchen dringend eine qualitativ gute Unterrichtsversorgung – mit Blick auf die Berufsschulen etwa ist eine gute Ausbildung der Berufsschüler auch volkswirtschaftlich von erheblicher Bedeutung.
Wie reagieren die Schulen derzeit auf den Lehrermangel?
JORZIK Die erste Variante ist: Es fällt Unterricht aus. Beispielsweise dadurch, dass statt drei Stunden Physik nur eine unterrichtet wird, oder ein ganzes Schuljahr lang ohne Physik und stattdessen mit Chemie geplant wird, oder umgekehrt. Fachfremder Unterricht ist eine weitere Maßnahme. Aber: Dieser entspricht fachlich oft nicht den Anforderungen. Es reicht für Mathe-Unterricht in der Grundschule nicht aus, das kleine Einmaleins zu können. Man braucht fachlich und didaktisch hervorragend ausgebildetes Personal, und das sind nun mal die Fachlehrer.
Was ist mit Seiten- und Quereinsteigern?
JORZIK Natürlich sind sie ein beliebter Weg der Schulen und Landesregierungen, dem Unterrichtsausfall Herr zu werden. Aber: Seiteneinsteiger kommen ohne Lehramtsstudium und ohne Referendariat meist direkt in die Klassen – sie werden erst berufsbegleitend geschult. Sie unterrichten also ohne didaktische und pädagogische Kenntnisse. Das ist vor allem an Berufsschulen ein gängiges Modell. Problematisch ist auch, dass Quereinsteiger häufig an Schulen eingesetzt werden, die besonders herausfordernd sind. Denn die einschlägig ausgebildeten Lehrer können sich in der Regel die Schule aussuchen und wählen keine „Problemschulen“.
Ist der Lehrerberuf für Abiturientinnen und Abiturienten unattraktiv geworden?
JORZIK Die Abiturienten hören oft das Wort „Lehrermangel“und denken dann an gute Jobperspektiven.
Allerdings: Wenn sie nach sieben Jahren mit ihrer Ausbildung fertig sind, ist die Ernüchterung mitunter groß, weil sich die Beschäftigungssituation unter Umständen erheblich verändert hat und die Nachfrage nach Lehrkräften deutlich gesunken ist. Eine Umfrage des Stifterverbandes und McKinsey hat ergeben, dass Abiturienten den Lehrerberuf als unflexibel wahrnehmen und mangelnde Aufstiegschancen sehen.
Welche Lösungen gibt es für den Lehrermangel?
JORZIK Es darf nicht darum gehen, möglichst alle offenen Stellen irgendwie zu besetzen. Entscheidend ist, die Richtigen für den Lehrerberuf zu rekrutieren. Die stärkere Öffnung des Lehramtes für leistungsstarke Studierende und Absolventinnen und Absolventen lehramtsaffiner Fachrichtungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihrer Bildungs- und Berufsbiografie ist ein vielversprechender Weg.
Was heißt das konkret?
JORZIK Bisher gibt es in Deutschland im Grunde nur einen Weg in den Lehrerberuf: Es werden schon im Bachelor zwei Fächer schulbezogen studiert. Das ist toll für die, die nach dem Abitur schon genau wissen, dass sie Lehrer werden möchten. Aber: Es gibt viele, die würden sich vielleicht später noch dafür entscheiden. Ohne zweites Fach wird das aber schon sehr schwierig. Warum sollten hoch qualifizierte und motivierte Informatikerinnen und Informatiker, die eben nur dieses Fach in der Tiefe studiert haben, nicht zu sehr guten Lehrkräften werden? Daher lautet unsere Empfehlung als Stifterverband an die Politik: Bevor am Ende Personen eingestellt werden, die noch gar nicht für den Schuldienst qualifiziert sind, lieber denjenigen, die nur ein Fach studiert haben, den Weg in den Master of Education zu öffnen. Man sollte nicht dogmatisch an diesen zwei Fächern festhalten. Das ist international gesehen übrigens auch gar nicht so verbreitet. Wir wünschen uns da mehr Optionen, nicht nur den einen „Königsweg“. Auch wäre es wichtig, Quer- und Seiteneinsteiger vor ihrem ersten Tag in der Schule weiterzuqualifizieren. Außerdem sollte man regelmäßige Einstellungskorridore schaffen und auch mal über Bedarf einstellen, damit man Engpässe besser überbrücken kann. Zusätzlich sollte man den Lehrerberuf attraktiver gestalten, also die Lehrer von all den Zusatzaufgaben befreien, die sie neben der eigentliche Lehre erfüllen müssen.