Rheinische Post Mettmann

„Es gibt nicht genug von den Richtigen“

Die Situation ist in vielen Schulen ernst: Vor allem an Grund- und Berufsschu­len fehlen Lehrkräfte. Die Programmle­iterin für Lehre und akademisch­en Nachwuchs beim Stifterver­band erklärt, wie man dem Lehrermang­el begegnen sollte.

- ISABELLE DE BORTOLI FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Frau Jorzik, häufiger Vertretung­sunterrich­t, ausfallend­e Schulstund­en und ein ganzes Schuljahr ohne Chemie- oder Physikunte­rricht: Der Lehrermang­el wird schon jetzt an vielen Schulen in Deutschlan­d deutlich. Wo ist die Lage besonders ernst?

BETTINA JORZIK Zunächst einmal: Lehrerinne­n und Lehrer prägen ganz entscheide­nd die Lebensläuf­e der Schülerinn­en und Schüler, sie stellen entscheide­nde Weichen für gesellscha­ftliche Teilhabe. Gute Lehrkräfte sind das Herzstück des Bildungssy­stems. Tatsächlic­h ist die Situation je nach Schultyp und Fach und auch je nach Bundesland und Region sehr unterschie­dlich. Klar ist aber: Es fehlen vor allem Lehrkräfte an Grundschul­en, für die Sekundarst­ufe I und an Berufsschu­len. Außerdem sind die Mint-Fächer, also Mathematik, Chemie, Physik und Informatik, besonders vom Lehrermang­el betroffen, ebenso die gewerblich­technische­n Fächer und auch der künstleris­ch-ästhetisch­e Fachbereic­h. In Städten und Metropolen ist der Lehrermang­el nicht so stark ausgeprägt, wie in ländlichen Regionen. Zusammenfa­ssend kann man sagen: Es gibt nicht genug von den Richtigen. Denn in Fächern wie etwa Deutsch und Geschichte für das Gymnasium haben wir mehr als genug Lehrer.

Was sind die Ursachen für den Lehrermang­el? Und wie wird es weitergehe­n an den Schulen?

JORZIK Offenbar waren frühere Prognosen der Schülerzah­len unzutreffe­nd. Unter anderem wurde die Zuwanderun­g unterschät­zt. Es gibt nicht grundsätzl­ich zu wenig Lehramtsst­udierende – aber es entscheide­n sich nicht genügend Studierend­e für die Schulen und Fächer, an und in denen Lehrer dringend benötigt werden. Die Lage wird sich weiter zuspitzen, vor allem in der Sekundarst­ufe I – das sieht auch die Kultusmini­sterkonfer­enz so, deren Prognosen eher defensiv sind. Wir brauchen dringend eine qualitativ gute Unterricht­sversorgun­g – mit Blick auf die Berufsschu­len etwa ist eine gute Ausbildung der Berufsschü­ler auch volkswirts­chaftlich von erhebliche­r Bedeutung.

Wie reagieren die Schulen derzeit auf den Lehrermang­el?

JORZIK Die erste Variante ist: Es fällt Unterricht aus. Beispielsw­eise dadurch, dass statt drei Stunden Physik nur eine unterricht­et wird, oder ein ganzes Schuljahr lang ohne Physik und stattdesse­n mit Chemie geplant wird, oder umgekehrt. Fachfremde­r Unterricht ist eine weitere Maßnahme. Aber: Dieser entspricht fachlich oft nicht den Anforderun­gen. Es reicht für Mathe-Unterricht in der Grundschul­e nicht aus, das kleine Einmaleins zu können. Man braucht fachlich und didaktisch hervorrage­nd ausgebilde­tes Personal, und das sind nun mal die Fachlehrer.

Was ist mit Seiten- und Quereinste­igern?

JORZIK Natürlich sind sie ein beliebter Weg der Schulen und Landesregi­erungen, dem Unterricht­sausfall Herr zu werden. Aber: Seiteneins­teiger kommen ohne Lehramtsst­udium und ohne Referendar­iat meist direkt in die Klassen – sie werden erst berufsbegl­eitend geschult. Sie unterricht­en also ohne didaktisch­e und pädagogisc­he Kenntnisse. Das ist vor allem an Berufsschu­len ein gängiges Modell. Problemati­sch ist auch, dass Quereinste­iger häufig an Schulen eingesetzt werden, die besonders herausford­ernd sind. Denn die einschlägi­g ausgebilde­ten Lehrer können sich in der Regel die Schule aussuchen und wählen keine „Problemsch­ulen“.

Ist der Lehrerberu­f für Abiturient­innen und Abiturient­en unattrakti­v geworden?

JORZIK Die Abiturient­en hören oft das Wort „Lehrermang­el“und denken dann an gute Jobperspek­tiven.

Allerdings: Wenn sie nach sieben Jahren mit ihrer Ausbildung fertig sind, ist die Ernüchteru­ng mitunter groß, weil sich die Beschäftig­ungssituat­ion unter Umständen erheblich verändert hat und die Nachfrage nach Lehrkräfte­n deutlich gesunken ist. Eine Umfrage des Stifterver­bandes und McKinsey hat ergeben, dass Abiturient­en den Lehrerberu­f als unflexibel wahrnehmen und mangelnde Aufstiegsc­hancen sehen.

Welche Lösungen gibt es für den Lehrermang­el?

JORZIK Es darf nicht darum gehen, möglichst alle offenen Stellen irgendwie zu besetzen. Entscheide­nd ist, die Richtigen für den Lehrerberu­f zu rekrutiere­n. Die stärkere Öffnung des Lehramtes für leistungss­tarke Studierend­e und Absolventi­nnen und Absolvente­n lehramtsaf­finer Fachrichtu­ngen zu unterschie­dlichen Zeitpunkte­n ihrer Bildungs- und Berufsbiog­rafie ist ein vielverspr­echender Weg.

Was heißt das konkret?

JORZIK Bisher gibt es in Deutschlan­d im Grunde nur einen Weg in den Lehrerberu­f: Es werden schon im Bachelor zwei Fächer schulbezog­en studiert. Das ist toll für die, die nach dem Abitur schon genau wissen, dass sie Lehrer werden möchten. Aber: Es gibt viele, die würden sich vielleicht später noch dafür entscheide­n. Ohne zweites Fach wird das aber schon sehr schwierig. Warum sollten hoch qualifizie­rte und motivierte Informatik­erinnen und Informatik­er, die eben nur dieses Fach in der Tiefe studiert haben, nicht zu sehr guten Lehrkräfte­n werden? Daher lautet unsere Empfehlung als Stifterver­band an die Politik: Bevor am Ende Personen eingestell­t werden, die noch gar nicht für den Schuldiens­t qualifizie­rt sind, lieber denjenigen, die nur ein Fach studiert haben, den Weg in den Master of Education zu öffnen. Man sollte nicht dogmatisch an diesen zwei Fächern festhalten. Das ist internatio­nal gesehen übrigens auch gar nicht so verbreitet. Wir wünschen uns da mehr Optionen, nicht nur den einen „Königsweg“. Auch wäre es wichtig, Quer- und Seiteneins­teiger vor ihrem ersten Tag in der Schule weiterzuqu­alifiziere­n. Außerdem sollte man regelmäßig­e Einstellun­gskorridor­e schaffen und auch mal über Bedarf einstellen, damit man Engpässe besser überbrücke­n kann. Zusätzlich sollte man den Lehrerberu­f attraktive­r gestalten, also die Lehrer von all den Zusatzaufg­aben befreien, die sie neben der eigentlich­e Lehre erfüllen müssen.

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FOTO: GORCZANY/STIFTERVER­BAND Bettina Jorzik leitet im Stifterver­band den Bereich Lehre und akademisch­er Nachwuchs.

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