Das Dorf sind wir
Der Voerder Schützenverein Mehr-Ork-Gest trägt den Frohsinn im Namen. Was bleibt davon nach einem Jahr Pandemie? Erkundungen am Niederrhein.
VOERDE Das Dorf Ork besteht aus gut 380 Einwohnern, einem Schützenverein und fünf Flaggenmasten am Ortseingang. An ihnen hängen: drei Deutschlandflaggen, eine Schalkeflagge und eine vom 1. FC Köln. Sie ist die größte und gehört dem Kölner. Der Kölner, sagt Klaus Becker, ist ein Netter. Aber der Kölner ist kein Schütze.
Über den Bildschirm ruckeln rund 20 Männer, das Gendern ist hier überflüssig. Manche haben den Hintergrund angepasst, sodass es aussieht, als säßen sie im Weltall, vor dem Festzelt oder in der Nordkurve des Borussia-Parks in Mönchengladbach. Die Männer haben schon den zweiten Förderantrag zu Fenstern und Türen beraten, die Heizungsanlage und den Rückbau der Fassade. Aber jetzt geht es um neue Mitglieder.
Der Bürgerschützenverein Frohsinn Mehr-Ork-Gest 1927 aus Voerde hat ein neues Mitglied. Es ist die Frau aus dem Haus mit der Köln-Flagge im Garten. Bei den Männern im Trikot von Borussia Mönchengladbach, die aussehen, als säßen sie im Borussia-Park, bricht Unruhe aus. „Haben wir da schon drüber abgestimmt?“, fragt einer der beiden. Niemand lacht, aber Klaus Becker sagt: „Wir haben alle unsere Fehler.“
Es ist nach 20 Uhr an einem Freitag, und der Vorstand des Voerder Schützenvereins tagt, wie auch sonst, im Internet. Weil das Bier in der Schützenhalle sich allmählich dem Verfallsdatum nähert, haben sie vor der Sitzung ein Paket bekommen mit ein paar Flaschen, einer Wurst und einem laminierten Zettel, auf dem steht: „Vorstandssitzung ist, wenn’s um die Wurst geht.“
Die Pandemie macht seit einem Jahr so gut wie alles unmöglich, wofür ein Schützenverein wie der BSV Mehr-Ork-Gest steht. Klar, das Schützenfest, das im Mai nun schon zum zweiten Mal ausfällt. Aber auch die Planwagenfahrt der Senioren, den Dia-Nachmittag mit den Bildern der Schützenfeste der vergangenen Jahre, das letzte Geleit für einen verstorbenen Kameraden, den Stammtisch, das Kinderschützenfest, das gemeinsame Bier nach dem Schießtraining.
Was bleibt vom Schützenwesen übrig in einer Zeit, in der Geselligkeit beinahe kriminell ist? Was bleibt, außer ein paar Flaschen Bier und einer Wurst?
In dem kleinen Rheindorf Ork in Voerde am Niederrhein, Kreis Wesel, müssen sie das wissen. Der Bürgerschützenverein Mehr-Ork-Gest trägt den Frohsinn schließlich im Namen.
Also, hinter Götterswickerhamm immer geradeaus den Rhein entlang, an den fünf Flaggenmasten vorbei, bis zur Schützenhalle an der
Mehrumer Straße. Klaus Becker, 53, Präsident des Schützenvereins, und Josef Hölser, 73, Ehrenpräsident, sitzen an einem Tisch mit weißer Decke und Gänsegeschirr. Es ist kalt, der Raum muss sich erst mal aufheizen. Der Kalender an der Wand zeigt den 9. Februar.
Die Stühle in der Schützenhalle stehen auf und unter den Tischen, man hat sie länger nicht gebraucht. Von den Pissoirs auf der Herrentoilette ist jedes zweite gesperrt, aber es ist niemand da, von dem man beim Pinkeln Abstand halten müsste.
Der Schießstand liegt hinter einer Glasscheibe. Normalerweise trinken sie an dem Tisch, auf dem jetzt Butterkuchen und Nussstriezel liegen, Bier und schauen sich beim Schießen zu. Aber jetzt sagt Hölser, ein Stück Kuchen im Mund: „Diese Geselligkeit, die fehlt.“
Schützenvereine haben, jedenfalls außerhalb von Schützenvereinen, einen zweifelhaften Ruf. Sie gelten manchen als reaktionär, als militaristisch, als chauvinistisch: Männer in Uniform, die schießen und saufen. Wenn aber das Schützenfest ist, dann kommen auch die, die über dieses Brauchtum sonst den Kopf schütteln. Bei einer guten Party fragt man nicht nach dem Gastgeber.
Der BSV Mehr-Ork-Gest hat mehr Mitglieder als das Dorf Ork Einwohner. 472, die Frau vom Kölner schon eingerechnet. Becker und Hölser sind stolz auf diese Zahl. Sie sind, sagen sie, der größte Schützenverein in der Umgebung, mit Abstand. Sie ziehen die Leute aus den umliegenden Dörfern an. Rund 150 Mitglieder sind in den letzten zehn Jahren dazugekommen. Während andere Vereine kaum noch Könige finden, peilen sie in Ork die 500er-Marke an.
Klaus Becker sagt, das sei eigentlich ganz einfach gewesen. Er habe sich bei der Jahreshauptversammlung vor einigen Jahren hingestellt und verkündet: Wir wollen 400 Mitglieder. „Das lief dann“, sagt er, als sei damit alles klar. Es wurden dann alle gefragt, die nicht bei drei auf dem Deich waren, und selbst denen haben sie noch einen Mitgliedsantrag
zukommen lassen. „Wenn Kollegen, Freunde und Familie dabei sind, dann gibt man sich irgendwann einen Ruck“, sagt Josef Hölser.
120 Mitglieder sind unter 30, auch weil viele schon direkt nach der Geburt angemeldet werden. Ab 15, sagt Klaus Becker, kann man mitmarschieren. Sie haben eine Leihbörse gegründet, weil man als 16-Jähriger selten 200 Euro für eine Schützenjacke
übrig hat. „Wenn die jungen Bengels heiß sind und ich sage, hier, 200 Euro für die Jacke, dann hauen die wieder ab“, sagt Klaus Becker. Also kann man sich die Uniform leihen, später bezahlen oder abstottern.
Man könnte das für eine Kleinigkeit halten, aber dann hätte man das Schützenwesen wohl nicht begriffen. „Bei uns haben sich alle akkurat anzuziehen“, sagt Becker, gelernter Bäcker. Beim Schützenfest hatten sie mal einen, erzählt er, der sei am Sonntagnachmittag ohne Hut losgelaufen. Der sei genau bis zur nächsten Ecke gekommen. „So ein bisschen Disziplin ist schon gut“, sagt Becker. Sie hatten jahrzehntelang einen Oberst im Verein, der hat ihnen das eingetrichtert. Helm ab zum Gebet, und zwar mit der rechten Hand.
Der Butterkuchen ist aufgegessen, die Gans auf dem Teller ist wieder deutlich zu sehen. Becker und Hölser erzählen nun seit anderthalb Stunden von ihrem Verein, dem BSV Frohsinn. Meistens nutzen sie die Vergangenheitsform. Damals, vor zwei Jahren, früher. Seit das Virus die Schützen auf Abstand hält, ist nicht viel passiert.
Klaus Becker verschickt nun regelmäßig einen Newsletter an die Mitglieder. Darin geht es um Heizungsanlagen und Fördergelder, die der BSV bekommt, um zu sanieren. Und um die Veranstaltungen, die wieder abgesagt oder auf den Sanktnimmerleinstag verschoben werden. Von den Verstorbenen braucht Becker in dem Newsletter nicht zu berichten, von ihnen erfährt das Dorf auch so.
Wenn einer von ihnen stirbt, hissen sie die Flagge an der Schützenhalle auf Halbmast. Im Schaukasten hängt dann ein Zettel, mit dem Namen des Kameraden. Als kürzlich ein älteres Mitglied gestorben ist, da hat Klaus Becker allein den BSV auf der Beerdigung vertreten. Mehr ging nicht.
Wirklich viele müssen aber nicht in den Schaukasten gucken. „In fast jedem Haus wohnt ein Schütze“, sagt Josef Hölser. Ein Dorf wie Ork braucht normalerweise keinen Newsletter und auch keine Zettel, man kennt und trifft sich ohnehin. Auf dem Deich, in der Kirche, am Gartenzaun.
Wenn man Becker und Hölser fragt, wie die Schützen nun füreinander sorgen, aufeinander aufpassen in dieser Pandemie, dann verstehen sie die Frage nicht. Das ist nichts, was sie in Zeiten der Bedrohung für sich entdeckt haben, wie manche in der Großstadt, sondern etwas, was sie immer schon gemacht haben.
Sie mähen das Gras am Deich, kümmern sich um das Kreuz, das sie dort aufgestellt haben, pflegen die Denkmäler im Dorf, und sie helfen dem, der sonst Hilfe braucht. „Wir halten den Dorfkern zusammen“, sagt Klaus Becker.
Bei den Dia-Nachmittagen, die ausfallen wie alles andere, zeigt Josef Hölser in normalen Jahren gut 500 Fotos, es gibt Kaffee und Kuchen. „Man fängt gemütlich an, danach geht es zum gemütlichen Teil über“, sagt Hölser.
Der Frohsinn, den der Bürgerschützenverein Mehr-Ork-Gest 1927 im Namen trägt, ist weniger eine Beschreibung als eine Haltung. Der Verein ist mehr als die Summe seiner Feste, sonst gäbe es seit einem Jahr den BSV Trübsinn. Die Schützen, sagt Klaus Becker, verstehen sich nicht als „closed shop“: „Wir sind hier nicht nur unter uns.“
Da ist zum Beispiel ja auch der Kölner, der ein Netter ist, aber kein Schütze, und dessen Frau nun Mitglied Nummer 472 ist. Zum Schützenfest zieht der Kölner die Effzeh-Flagge übrigens ein. Er hisst dann eine grün-weiße Flagge mit der Aufschrift: „Kölle grüßt Ork.“Das Dorf Ork besteht vor allem aus einem Schützenverein.