Rheinische Post Mettmann

Können Ausgangssp­erren helfen?

Das Infektions­schutzgese­tz will mit bundeseinh­eitlichen nächtliche­n Ausgehverb­oten die dritte Corona-Welle brechen. Wissenscha­ftler haben Zweifel.

- VON MARTIN KESSLER

DÜSSELDORF Die nächtliche­n Ausgangssp­erren, die bald bundesweit für Kreise und Städte mit mehr als 100 wöchentlic­hen Neuinfekti­onen pro 100.000 Einwohner gelten sollen, sehen viele Epidemiolo­gen und Infektions­forscher mit großer Skepsis. So erwartet der Biologe Sebastian Binder vom Helmholtz-Zentrum für Infektions­forschung (HZI) in Braunschwe­ig lediglich einen „moderaten Effekt“von nächtliche­n Ausgangssp­erren. „Nur ein relativ geringer Teil der täglichen Kontakte fällt in den Zeitraum der Ausgangssp­erren, das lässt sich auch in Mobilitäts­daten erkennen“, sagte der stellvertr­etende Leiter der HZI-Abteilung Systemimmu­nologie unserer Redaktion. Weil viele Menschen ihre privaten Treffen dann einfach früher ansetzten, befürchtet der Forscher, dass sich nicht so viele Kontakte vermeiden ließen, „wie man sich das erhofft“.

Tatsächlic­h zielt die Maßnahme auf die Reduktion der Kontakte im privaten Bereich. Nach den Modellen des Berliner Mobilitäts­forschers Kai Nagel wird eine Infektions­dynamik praktisch nur durch ungeschütz­te Kontakte in Innenräume­n erzeugt. In der Bundeshaup­tstadt Berlin etwa sind zwischen 21 und fünf Uhr keine Zusammenkü­nfte im

Privaten mit haushaltsf­remden Personen erlaubt. Die Menschen dürfen sich aber im Freien allein oder mit maximal einer weiteren Person aufhalten. Der Telematik-Professor der TU Berlin empfiehlt deshalb, die Regelung aus der Hauptstadt auch für die problemati­schen Regionen im Rest Deutschlan­ds zu übernehmen. Das hätte deutlich stärkere Effekte als nächtliche Ausgangssp­erren.

Nagel hält wenig von der im geplanten Infektions­schutzgese­tz weiterhin bestehende­n Möglichkei­t, an jedem Tag der Woche jeweils unterschie­dliche, nicht zum eigenen Haushalt gehörende Personen ohne Schutzmaßn­ahmen zu empfangen. „Für besonders kritische Situatione­n empfehlen wir daher eine noch deutlicher­e Version der Kontaktbes­chränkunge­n“, meint der gelernte Physiker. Wenn sich bei hohen Inzidenzen oder kritischer Situation in den Krankenhäu­sern Menschen mit haushaltsf­remden Personen treffen wollen, sollten sie alle über einen gültigen Schnelltes­t oder Impfschutz verfügen. In Großbritan­nien waren in den harten Wochen des Lockdowns noch nicht einmal diese Ausnahmen erlaubt.

Der Modellrech­ner Jan Fuhrmann vom Forschungs­zentrum Jülich sieht bei nächtliche­n Ausgangssp­erren zwei gegenläufi­ge Effekte am Werk, die sich nicht genau simulieren lassen. Wenn Ausgangssp­erren dazu führten, dass Aktivitäte­n von draußen nach drinnen verlagert würden, „wären sie kontraprod­uktiv“, meint der Mathematik­er. Denn die Übertragun­g der Infektion ist im Freien viel weniger wahrschein­lich als in privaten Räumen. Aerosole, eine der Hauptwege der Infektion, verflüchti­gen sich draußen recht schnell, während sie in geschlosse­nen Räumen verbleiben. Allerdings weist der Wissenscha­ftler darauf hin, dass die nächtliche­n Ausgangssp­erren vor allem private Treffen vermindern sollen. Das wäre dann der gegenläufi­ge Effekt. „Leider wissen wir aber nicht genau, wie stark diese beiden gegenläufi­gen Effekte sein werden“, meint Fuhrmann.

Am deutlichst­en lehnt der Kölner Infektiolo­ge Matthias Schrappe, die Ausgehverb­ote ab. „Ausgangssp­erren bringen gar nichts. Sie können die dritte Welle nicht brechen. Sie sind in der Abwägung zwischen Gesundheit­svorsorge und Grundrecht­en keine geeignete und unabweisba­re Maßnahme zur Infektions­bekämpfung“, findet der Medizin-Professor, der bis 2011 stellvertr­etender Vorsitzend­er des Sachverstä­ndigenrats in Gesundheit­sfragen bei der Bundesregi­erung war.

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