Der Querdenker
Jede Woche demonstriert Ralf gegen die Corona-Politik. Was ein Querdenker wirklich denkt und worüber er sich kaum Gedanken macht.
DÜSSELDORF In seinen Whatsapp-Status hat Ralf – seinen Nachnamen möchte er nicht verraten – einen Satz geschrieben, der christlich anmutet: „Furcht ist niemals ein guter Berater, sondern Hoffnung und Liebe vertreibt alle Angst.“Die Worte stammen aber nicht aus der Bibel, sondern aus dem Lied „Wach auf, Deutschland“, das immer wieder auf Demonstrationen gegen die Corona-Politik erklingt. Darin heißt es auch, Deutschland solle sich wieder aus der Sklaverei befreien.
Ralf, 39, sitzt im Wohnzimmer seiner Essener Wohnung. Er trägt eine Kappe und einen Anstecker am T-Shirt, auf dem er zu „Free Hugs“, also zu gratis Umarmungen aufruft. Für das Gespräch hat er sich Notizen gemacht, genau aufgeschrieben, was er wo gelesen hat. „Ich bin kein Mediziner, kein Biologe“, sagt er. „Und ich bin kein Corona-Leugner.“Ralf, der seit Monaten mit der Gruppe „Querdenken 211“gegen die Corona-Politik auf die Straße geht, zweifelt nicht daran, dass es das Virus gibt. Aber er ist sich sicher, dass Vieles falsch läuft.
Er denkt nicht geradeaus oder rückwärtsgewandt, sagt er, sondern einfach anders, quer eben. Angefangen hat alles ziemlich genau vor einem Jahr. „Ich hatte selbst erst Angst, war einer der Ersten, die mit einer Maske rumgelaufen sind, als es noch gar keine Pflicht gab“, erzählt der 39-Jährige. Das, was er zu Beginn der Corona-Pandemie über das Virus gehört und gelesen hat, wie schlimm es wirklich sein soll, habe er aber irgendwann in Frage gestellt. Und gemerkt: Damit ist er nicht alleine.
Der gelernte Bürokaufmann ist aufgrund einer psychischen Krankheit seit zehn Jahren in Frührente. Er selbst, sagt er, müsse sich eigentlich keine Sorgen machen. Er hat keinen Job, den er verlieren kann. „Aber ich habe sensible Antennen, komme schlecht mit Ungerechtigkeiten klar“, sagt er. Auch wenn er selbst nicht betroffen sei – seine Mitmenschen seien es. Er schaut
Youtube-Videos, verknüpft sich bei Facebook mit Gleichgesinnten und hört das erste Mal von Telegram. In dem Nachrichtendienst hat auch die Gruppe Querdenken 211 einen Kanal, auf dem sie kommuniziert.
Wie viele andere in der Bewegung habe er sich vor der Pandemie nicht für Politik interessiert, sagt Ralf. Im Juni aber läuft er zum ersten Mal bei einer Demonstration
in Berlin mit, um seinen Unmut mit der Corona-Politik kundzutun. Er argumentiert mit den Grundrechten: Er kann nicht mehr einkaufen gehen, wann und wie er will, nicht abends zum Poetry Slam, nicht in den Urlaub fahren. Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung sieht er verletzt – seine Meinung und die der Querdenker werde pauschal verurteilt, sagt er.
Wenn man ihn fragt, für wie gefährlich er das Virus hält, das er nicht leugnet, dann nennt Ralf das Beispiel einer Nachbarfamilie. Die hatten Symptome wie bei einer Grippe. Wenn ihm jemand Fakten an die Hand geben würde, die beweisen, wie schlimm Corona wirklich ist, dann werde er seine Meinung ändern, sagt er. Am Donnerstag stieg die Zahl der Corona-Toten in Deutschland auf 79.427, in Düsseldorf auf 339. Für Ralf ist das kein Widerspruch. „Jeder Tote ist schrecklich, aber Krankheiten sind ein allgemeines Lebensrisiko“, sagt er. „Der Mensch kommt auf die Welt, um zu leben und zu sterben.“
Er scheint sich wenig vor den Langzeitfolgen von Covid-19 zu fürchten, wohl aber vor denen der Impfung gegen das Virus. Es sei eine Wahl zwischen Pest und Cholera, sagt er. Erst vergangenes Jahr habe er andere Impfungen auffrischen lassen. Aber der Schutz gegen das Coronavirus ist seiner Meinung nach zu wenig erforscht. Wenn er davon spricht, dass er ein Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit hat, meint er damit also nicht den Schutz vor dem Virus, sondern den vor der Impfung. „Mein Körper, mein Tempel“, sagt Ralf. Um Herdenimmunität zu erreichen, müssten etwa 60 bis 70 Prozent der Menschen den Corona-Impfschutz haben, schätzt die Bundesregierung. „Dann gehöre ich halt zu denen, die sich nicht impfen lassen“, sagt der Querdenker. Und setzt voraus, dass die anderen es tun.
Ralf fordert Lockerungen, wieder mehr Eigenverantwortung. „So viele Einschränkungen wie nötig, so viel Freiheit wie möglich“, sagt er. Er wünscht sich einen neuen Gesundheitsminister,
irgendeinen Mediziner, aber nicht Karl Lauterbach. Er fordert konsequentes Testen, aber seine Apotheke bietet das nicht an und Testzentren hält er für chaotisch. Er lobt den schwedischen Weg, ohne anzumerken, dass die Todesrate hier in der ersten Welle viermal höher war als in Deutschland.
Trotz der Kritik hält Ralf sich an die Regeln, sagt er. Seinen Geburtstag habe er zu Hause mit nur einem Freund gefeiert. Draußen trägt er eine Maske, obwohl er ein Attest hat – er habe keine Lust, sich rechtfertigen zu müssen. Querdenker zu sein, führe auch zu Spaltungen, sagt Ralf. Der Riss gehe durch Freundeskreise und Familien, manchmal auch quer durch Ehebetten. Seine Nachbarin, die er seine Zieh-Oma nennt, sagt ihm, er sei ein Spinner, weil er auf die Demonstrationen geht. In der Gruppe in Düsseldorf aber habe er schnell Anschluss gefunden, viele Freunde kennengelernt. „Es fühlt sich an wie eine große Familie.“