Er konnte einfach alles
Schauspieler, Autor, Moderator, Multitalent und Universalgelehrter: Sir Peter Ustinov wurde vor 100 Jahren geboren. Für „Spartacus“und „Topkapi“bekam er den Oscar.
LONDON In dem herrlichen Film „Tod auf dem Nil“von 1978, der zur erweiterten Gruppe der „Kostümschinken“zählt, kommt es zu einer köstlichen Begegnung. Der belgische Meisterdetektiv Hercule Poirot weilt in einem vornehmen ägyptischen Etablissement, betritt den Ballsaal und erblickt plötzlich einen alten Freund. Große Szene, enthusiastische Begrüßung: „Colonel Race!“
Wie Peter Ustinov und David Niven – und zwar bei genau 15:24 Minuten – diese Mischung aus freudigem Erstaunen, maximaler Förmlichkeit und Herzensschwung spielen, wie sie einander am liebsten umarmen würden, doch jede Knitterfalte des Smokings vermeiden: Das ist ein Moment, auf den sich Filmfreunde freuen wie die Kinder.
Ustinov wäre Niven aber auch im wirklichen Leben immer wieder um den Hals gefallen, denn die beiden kannten einander sehr gut; sie hatten schwierigste Zeiten miteinander durchlebt. Ustinov, der junge Theaterund Filmschauspieler, war 1942 zur British Army gekommen, um seinen Wehrdienst abzuleisten. Sein unmittelbarer Vorgesetzter war Oberleutnant David Niven. Die beiden verstanden sich sogleich, zwei Schauspieler, die unter den politischen Entwicklungen eine neue Mission zu meistern hatten.
Ustinov hatte als Nivens Offiziersbursche gewiss zahllose Vorteile, doch die Eindrücke des Kriegs und der vielen Toten ließen in ihm die Überzeugung reifen, dass man sich diesem Wahnsinn entgegenstellen müsse – und zwar durch konsequent pazifistische und humanistische
Haltung. Ustinov löste die unmittelbaren Bedrängnisse des Kriegs, indem er der Schauspieler-Einheit beitrat, kleinen Propaganda-Filmen sein Gesicht lieh und auch sein erstes Drehbuch schrieb.
Ustinov, am 16. April 1921 in London geboren und 2004 in der Schweiz gestorben, war schon früh auffällig geworden: als Höchstbegabter. Er sprach zahllose Sprachen fließend, besaß eine literarische Begabung, für Romane wie für Kurzgeschichten und Drehbücher, in ihm floss unverdünntes Theaterblut, als reifer Gast bei Talkshows war er höchst beliebt – doch auf den Olymp gelangte er beim Film. Hier konnte er den ihm angeborenen Spiel- und Verwandlungstrieb am virtuosesten ausleben.
Vor allem besaß Ustinov eine Gabe, an der andere ihr Leben lang verzweifelt üben: den Blick. Mit seinen Augen konnte er ganze Epen vortragen. Er konnte sie zusammenkneifen und scharfstellen, als nehme er ein entferntes Objekt ins Visier. Diese Augen guckten dann neugierig, ein wenig nervös oder argwöhnisch, als schöpften sie Verdacht, sie konnten aber auch lachen, als kämen gleich die Tränen, dabei war dieses Lachen der Augen falsch, es war dieses wissende Lachen, bei dem man ahnte, dass der Lacher soeben die ungeheure Dimension einer Sache verstanden hatte. Oder lachend jammern: Das konnte keiner so genial wie Ustinov.
„Tod auf dem Nil“war natürlich Ustinovs Meisterstück, doch nicht minder genialisch wirkt er in der zweiten pompös besetzten Agatha-Christie-Verfilmung, „Das Böse unter der Sonne“. Weniger bekannt sind seine anderen Filmauftritte als Hercule Poirot (etwa in „Rendezvous
mit einer Leiche“oder „Mord à la carte“). Ihm glaubte man jedenfalls den Scharfsinn, die Existenz der berühmten kleinen grauen Zellen, die zu kombinatorischen Höchstleistungen – fraglos à la Ustinov – fähig waren.
Seine beiden Oscars (und zwar in Nebenrollen) bekam Ustinov aber für andere Filme, einmal für seinen Lentulus Batiatus, den Boss der römischen Gladiatorenschule in „Spartacus“, den Ustinov mit einer fabelhaften Melange aus ordinärer Habgier und bewundernder Menschenkenntnis ausstattete. Und dann natürlich für seinen Arthur Simon Simpson, jenen Kleinbetrüger in „Topkapi“, für den Ustinov sozusagen das Charakterfach des durchtriebenen Trottels erfand. Nicht zu vergessen: Ustinov als fast psychiatrisch auffälliger, von Wahnsinn umwitterter Nero in „Quo vadis?“. Zu dieser Rolle war er mit einem grandiosen Argument gekommen. Die Produzenten hatten sehr lange mit der Entscheidung gewartet, den damals 30-jährigen Ustinov mit der Rolle zu betrauen. Da schrieb er ein Telegramm: „Wenn ihr noch länger wartet, bin ich zu alt. Nero starb nämlich mit 31 Jahren.“Er bekam die Rolle.
Ustinov war die seriöse Ausgabe von Monty Python, allerdings in einer einzigen Person. Davon gibt es einen grandiosen Soundtrack, die unbekannte CD „Verses, Voices & Noises“, die dank einer unergründlichen Fügung noch immer lieferbar ist. Wer jemanden kennt, der Vergnügen an britischem Humor hat, sollte ihn mit dieser CD beglücken.
Dass Ustinov ein Menschenfreund war, hat der Autor dieser Zeilen einmal in einem Interview erleben dürfen, das anlässlich einer CD mit einer Neuaufnahme von SaintSaëns‘ „Karneval der Tiere“möglich war. Ustinov hatte einen witzigen Rahmentext geschrieben, und nun saßen wir in einem Kölner Hotel, in dem großer Bahnhof um den Star aus London herrschte. Ich hatte zehn Minuten. Als erstes – diese Frage vergesse ich mein Leben nicht – wollte er wissen, welches Instrument ich spiele („Klavier!“) und ob ich den Klavierpart des „Karnevals“hinbekäme. Ich sagte: „Wenn ich viel übe, vor allem die galoppierenden Wildesel, vielleicht.“Er sagte: „Ja, die Esel sind eine echte Plage, vor allem wenn sie schneller sind, als wir glauben.“
Und dabei lachte er wieder, und ich wusste nicht, ob er mich verspottete oder nicht. Dieses Lachen hatte er ja tausendfach geübt. Aber als ich zum Abschied sagte, einen guten Pianisten erkenne man am sogenannten Moulage-Test, da lachte er so offen und direkt, dass ich mich geistig von ihm adoptiert fühlte.
Wer jetzt nicht weiß, was der Moulage-Test ist, muss den Schluss von „Tod auf dem Nil“gucken. Doch zuvor achte er bitte auf den Moment großen Schauspieler-Theaters bei 15:24 Minuten.
Viele Rollen verbindet man mit ihm – etwa den Detektiv Hercule Poirot
und Diktator Nero