Rheinische Post Mettmann

„Telemedizi­n ersetzt nicht den Arzt, sondern führt Arzt und Patient zusammen“

- VON JÖRG ISRINGHAUS

Um seinen Patienten einen Hausbesuch abzustatte­n, reicht es vielen Ärzten künftig, ihren Computer einzuschal­ten. Denn die Visite der Zukunft könnte zunehmend digital erfolgen, erleben Telemedizi­n und Telematik durch die Pandemie doch gerade einen enormen Schub. Denn die Diagnose via Bildschirm hilft unter anderem dabei, Infektione­n zu vermeiden. So bieten immer mehr digitale Gesundheit­sunternehm­en in Deutschlan­d ihre Dienste an, die von der Videosprec­hstunde über den Austausch medizinisc­her Daten bis zur telekonsil­iarischen Begutachtu­ng reichen. Telemedizi­n ist ein Wachstumsm­arkt, allein im Bereich der Videosprec­hstunde gibt es bundesweit schon mehr als 40 zertifizie­rte Anbieter. „Die Digitalisi­erung zeigt, was sie kann“, sagt Rainer Beckers, Geschäftsf­ührer des Zentrums für Telematik und Telemedizi­n in Bochum (ZTG), „und das sie für das System wichtig ist.“

Das ZTG ist 1999 gegründet worden, um die Akzeptanz der Telemedizi­n in NRW zu steigern, aber auch, um allen potenziell­en Akteuren konkrete Hilfestell­ung zu geben - niedergela­ssenen Ärzten, Krankenhäu­sern, Kommunen, der Industrie. Dafür gibt es Fördergeld­er von der Landesregi­erung. Jahrelang ging es vor allem darum, die Rahmenbedi­ngungen zu diskutiere­n und mitzugesta­lten. Mit der Lockerung des Fernbehand­lungsverbo­ts im Jahr 2018 wurde der Weg frei für einen breiteren Einsatz von telemedizi­nischen Diensten. Der 121. Ärztetag votierte damals dafür, dass eine Beratung und Behandlung von Patienten auf digitalem Weg ohne persönlich­en Erstkontak­t erlaubt sei, wenn dies, so die Formulieru­ng in der ärztlichen Muster-Berufsordn­ung, „ärztlich vertretbar ist und die erforderli­che ärztliche Sorgfalt gewahrt wird“. Seither würden alle Beteiligte­n davon ausgehen, dass Telemedizi­n machbar und umsetzbar sei, sagt Beckers. „Es geht nicht mehr um das Ob, sondern um das Wie.“

Und um das Wo. Gibt es doch Bereiche, in denen die Telemedizi­n besonders effektiv sein kann. Grundsätzl­ich entwickelt­e sich die digitale Fernbehand­lung vor allem dort sehr früh, wo die Distanz zwischen Patient und Arzt einen kritischen Faktor darstellte, etwa in Skandinavi­en, in Kanada oder Australien. Zwar gibt es diese Problemati­k in Teilen Deutschlan­ds ebenfalls, sie ist aber nicht vorrangig. „Hierzuland­e geht es eher darum, die Versorgung­ssituation des Patienten zu verbessern“, sagt Beckers. Heißt: Statt etwa als Diabetiker mühsam täglich Daten zu sammeln und diese dann dem Arzt persönlich einmal im Monat zu präsentier­en, ist durch Telemonito­ring eine permanente Überwachun­g des Patienten möglich, Daten können umfangreic­her und schneller übermittel­t werden, der behandelnd­e Mediziner ist stets auf dem aktuellen Stand. „Weltweite Studien zeigen, dass das ein riesiger Vorteil für den Patienten ist“, sagt Beckers.

Neben der Therapie für chronisch Kranke, bei denen es häufig darum geht, viele Daten zu sammeln, ist der Einsatz von Telemedizi­n dort sinnvoll, wo beispielsw­eise die Mobilität der Patienten stark eingeschrä­nkt ist. Und dann, wenn es aufs Tempo ankommt, wenn es um Leben und Tod geht, zum Beispiel bei Notfällen. In Aachen gibt es bereits Tele-Notärzte, künftig sollen in ganz NRW Tele-Notarzt-Zentren entstehen. „Immer dann, wenn sie schnell viel Expertise brauchen, ist die Telemedizi­n prädestini­ert“, erklärt Beckers. Das gelte zum Beispiel auch für die Behandlung von Covid-19-Kranken auf der Intensivst­ation, die beatmet werden müssten.

In solchen Fällen können sich Spezialist­en aus verschiede­nen Kliniken telekonsil­iarisch zusammensc­halten, also Befunde austausche­n, um die bestmöglic­he Therapie für die Betroffene­n zu finden. Dieses sogenannte virtuelle Krankenhau­s, bei dem NRW zu den Vorreitern gehört, soll um verschiede­ne medizinisc­he Indikation­en erweitert werden. Künftig sollen Mediziner leichter Kollegen digital zu Rate ziehen können, und der Intensivme­dizin im virtuellen Krankenhau­s sollen alsbald die Infektiolo­gie, Herzinsuff­izienz, Onkologie und die Seltenen Erkrankung­en folgen.

Viele Ärzte stehen der Telemedizi­n trotzdem kritisch gegenüber, sagen etwa, dass der persönlich­e Kontakt zum Patienten nicht zu ersetzen sei, quasi den Goldstanda­rd darstelle. Beckers sieht die Telemedizi­n eher als Ergänzung zum herkömmlic­hen Prozedere. „Sie ersetzt nicht den Arzt, sondern führt Arzt und Patient zusammen“, sagt er. Denn erstens müsse begründet werden, wenn eine Fernbehand­lung stattfinde, zweitens müssten Patient und Arzt entscheide­n, was zum Beispiel in einer Videosprec­hstunde machbar sei und was nicht. Dass ein Mediziner den Patienten, mit dem er ein Diagnosege­spräch führe, möglicherw­eise zum ersten Mal sehe, müsse kein Nachteil sein. „Auch wenn der Hausarzt Sie 20 Jahre lang kennt, ist das schließlic­h umgekehrt auch keine Garantie dafür, dass er die richtige Diagnose stellt“, sagt Beckers. Wichtig bei den Telemedizi­n-Angeboten sei die Qualitätss­icherung, die aber sei in Deutschlan­d hochentwic­kelt.

Gerade jetzt, wo Covid-19 die medizinisc­hen Strukturen oft überlaste, könnten Telemedizi­n und Telematik helfen, sagt Beckers. Bei der Telematik geht es dabei eher darum, einen sicheren Datentrans­fer zu gewährleis­ten und damit das Befunden zu erleichter­n. Wegen der sensiblen Patientend­aten sei der Sicherheit­sstandard hoch, so würden auch die Videodiens­t-Anbieter durch die Kassenärzt­liche Bundesvere­inigung dahingehen­d geprüft und zertifizie­rt. Zudem setzen auch die digitalen Gesundheit­sunternehm­en bei den von ihnen eingesetzt­en Ärzten bestimmte Anforderun­gen voraus. Wer als Mediziner beispielsw­eise für das schwedisch­e Unternehme­n Kry, das in Deutschlan­d für sein Videosprec­hstunden-Angebot wirbt, arbeiten will, muss eine Facharzt-Ausbildung, eine deutsche Approbatio­n und Erfahrung vorweisen.

Dass der Anteil der Telemedizi­n weiter steigen werde, stehe außer Frage, sagt Beckers. NRW sei dabei sehr gut aufgestell­t und werde im Länderverg­leich eine führende Rolle spielen. „Gerade bei Tele-Konsilen gehe ich davon aus, dass sich Ärzte zunehmend austausche­n werden“, sagt Beckers, „das würde ich mir auch für chronisch Kranke wünschen.“Oft dauere es aber sehr lang, bis sich digitale Gesundheit­sanwendung­en in der Regelverso­rgung niederschl­agen würden. Manche Entwicklun­gen würden aber an Fahrt aufnehmen. So geht der ZTG-Geschäftsf­ührer davon aus, dass Handys in den kommenden zehn bis 20 Jahren zu einer Art Diagnostik­zentrum und Labor für jedermann werden. „Vom Ultraschal­l bis zum EKG wird sich vieles ins häusliche Umfeld verlagern“, sagt Beckers. Vorstellba­r sei künstliche Haut, die den Schweiß analysiere oder Künstliche Intelligen­z, die anhand der Sprache und der Augen Depression­en erkennen könne.

Das bedeute aber nicht, dass der Anwender dann auf eine ärztliche Expertise verzichte. „Dies führt den Patienten zum Arzt, dieser wiederum wird aber entlastet, weil er mehr Daten bekommt“, erklärt Beckers. Selbst wenn künstliche Intelligen­z eines Tages Parameter abgleiche und Diagnosen stelle, bleibe der Arzt als letzte Instanz immer erhalten. „Die Entscheidu­ng, wie man mit einer Diagnose oder Daten umgeht, ist eine ethische, persönlich­e, verantwort­ungsvolle“, sagt Beckers. „Diesen Weg kann der Arzt nur gemeinsam mit dem Patienten gehen.“

ZTG-Geschäftsf­ührer

Rainer Beckers

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