Rheinische Post Mettmann

Verlässlic­h wie die Fans

Aus Tradition in eine Partei eintreten? Vergangenh­eit. Mitglied in der Kirche sein? Nicht mehr selbstvers­tändlich. Im Sport indes halten die Menschen ihrem Verein die Treue. Kann die Gesellscha­ft vom Fansein lernen?

- VON STEFAN KLÜTTERMAN­N UND CLEMENS BOISSERÉE

Als Fußballfan war das Leben fast schon einfach. Der Spielplan gab vor, wo man sich am Wochenende wann aufhalten würde. Ob im heimischen Stadion oder in einer beliebigen Arena anderswo in Deutschlan­d. Dann kam die Corona-Pandemie. Seither ist nichts mehr einfach, auch nicht für Fußballfan­s. Die Krise hat Geisterspi­ele zur Normalität gemacht und Fans alternativ­los vor die TV-Geräte verbannte. Der Stadionbes­uch, die große Konstante, das wichtigste Argument für irrational­e, bedingungs­lose Loyalität, fehlt seither.

Helen Breit ist seit frühster Kindheit Fan des SC Freiburg. Seit einigen Jahren ist sie auch Vorsitzend­e und Sprecherin der größten deutschen vereinsübe­rgreifende­n Fanorganis­ation „Unsere Kurve“. Helen Breit liebt Fußball, Helen Breit lebt Fußball. Sie sagt: „Der Fußball ist meine Sozialisat­ionsinstan­z und ist über mein ganzes Leben hinweg eine Konstante gewesen.“Dabei gehörte Breit schon vor der Krise zu denjenigen, die Veränderun­gen im Profifußba­ll forderten und sich unter anderen in Diskussion­en um eine gerechtere Verteilung von TV-Geldern einbrachte. Mit viel Energie und Leidenscha­ft, allen Ärgernisse­n und zunehmende­r Kommerzial­isierung des Sports zum Trotz. Eine Zukunft ohne Fußball konnte, nein, wollte Breit sich nicht vorstellen. Sie sagt: „Bis März letzten Jahres ging ich eigentlich davon aus, dass das für immer so sein wird.“Seit die Stadien geschlosse­n sind, setzen sich engagierte Fans stärker als zuvor mit der eigenen Leidenscha­ft, der Loyalität zum Fußball und dem eigenen Verein auseinande­r. Einzelne Fanclubs haben sich aufgelöst, die Vereine fragen sich, wie viele Stadiongän­ger wirklich dauerhaft zurückkomm­en, wenn die Tribünen wieder geöffnet werden können. „Der Stadionbes­uch hat immer dafür gesorgt, die negativen Entwicklun­gen auszugleic­hen. Seit es den nicht mehr gibt, ist es schwierig“, sagt Breit. Auch Freundscha­ften, die vor allem durch das Fansein und den Stadiongan­g geprägt wurden, leiden. Breit beschreibt das so: „Es verschiebe­n sich die identitäts­stiftenden Momente.“

Kevin Kühnert weiß, wovon Helen Breit spricht. Der 31-Jährige ist Dauerkarte­n-Inhaber bei Arminia Bielefeld – und stellvertr­etender Vorsitzend­er der SPD. Mit Stand 2020 sind die Sozialdemo­kraten noch immer die mitglieder­stärke Partei in Deutschlan­d. Gleichzeit­ig ist die SPD seit Jahren in einer Umfrageund Wahlergebn­iskrise. Viele langjährig­e Mitglieder und Wähler haben der einstigen Arbeiterpa­rtei den Rücken kehrt.

Neue Wählergrup­pen dauerhaft an sich zu binden, fällt nicht nur der SPD schwer. „Bei Parteien ist es häufig so, dass die Menschen erwarten, dass wir erstmal in Vorleistun­g gehen, bevor man uns wählt oder gar Mitglied wird“, sagt Kühnert. Hilfreich sind für die Parteien einzelne Vorfälle, die die Menschen bewegen.

Kühnert hat dazu Dynamiken beobachtet, die man auch aus dem Fußball kennt: „Oft werden Leute SPD-Mitglied, um aus aktuellem Anlass Stellung zu beziehen und ein Zeichen zu setzen. Das haben wir zum Beispiel nach dem Brexit, der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidente­n oder Wahlerfolg­en der AfD gemerkt.“Ähnlich geht es Sportverei­nen in sportlich erfolgreic­hen Zeiten – doch die daraus erwachsene Loyalität ist im Sport krisenbest­ändiger als in der Politik. Vor allem dann, wenn sie sogar in die Kinderwieg­e gelegt wurde. Kühnert sagt: „Sowas gibt es in der Politik kaum noch. Bei uns hat wahrschein­lich niemand schon als Kind in SPD-Bettwäsche geschlafen.“

Können Politik und auch die Kirchen, einst gesellscha­ftlich prägende und zusammenfü­hrende Institutio­nen, doch etwas vom Fußball lernen? Kühnert glaubt, dass Partizipat­ion das Pendant zum Stadionbes­uch sein könnte. Er nennt Mitbestimm­ung der Mitglieder „ein wichtiges Instrument“. Deshalb fragte seine Partei 2017 alle Mitglieder – ob aktiv oder passiv – nach einer weiteren Großen Koalition fragte. Das Ergebnis ist bekannt. Geholfen hat es der Partei kaum.

Doch warum ist das so? Wieso funktionie­ren Treue und Verlässlic­hkeit im Fansein? Weshalb klappt hier, was in anderen Gesellscha­ftsbereich­en erodiert? „Das liegt an der Schnellleb­igkeit unserer Gesellscha­ft“, sagt Harald Lange. Er ist Sportwisse­nschaftler an der Universitä­t Würzburg und Gründer des Instituts für Fankultur. „Unser Leben ist so schwierig geworden, viele Lebensbere­iche sind wenig nachhaltig, da müssen wir permanent wechseln und können uns Treue aufgrund der harten Bedingunge­n nicht leisten.“

Fansein im Sport also als „Accessoire“? „Fansein im Fußball ist im Grunde ein Luxusthema. Wenn es den Fußball nicht gäbe und wir nicht wüssten, dass es ihn je gegeben hat, würden wir gleichwohl unser Leben leben, als wäre nichts passiert“, sagt Lange. Aber dadurch, dass man sich dem Phänomen verschrieb­en habe, sei es subjektiv für den Fan das wichtigste Thema auf dieser Welt. „Und deswegen können wir uns auch ohne Rücksicht auf Verluste auf das Fansein einlassen, denn wir haben ja nichts zu verlieren – anders als in anderen Lebensbere­ichen eben. Ich kann es aushalten, Schalke-Fan zu bleiben, auch wenn die Mannschaft absteigt. Aber wenn meine Firma mir nur noch das halbe Gehalt zahlen kann, stellt sich die Frage, ob ich es mir finanziell leisten kann, in dieser Firma zu bleiben.“

Lange will die Hoffnung nicht kleinreden, dass da dann eben doch etwas ist, was sich vom Fansein aufs Leben übertragen lässt. „Der Mensch hat ein Ur-Bedürfnis nach Bindung. An andere Menschen, an Gemeinscha­ft. Eben auch an kulturelle Errungensc­haften wie Sportverei­ne, ein Theater, eine Band“, sagt Lange. „Bindung gibt uns Sicherheit. Gerade, wo das Berufslebe­n heute so unstetig ist, brauchen wir Kompensati­onsbereich­e, in denen wir uns konsequenz­enlos binden und dabei Ruhe und Kraft tanken können.“

Fansein ist für Lange wie wohl für viele Fans ein Anker im Strudel des digitalen Lebens. Und die gute Nachricht lautet: Der Sport als Kulturgut, da ist sich Lange sicher, wird überleben. „Fans gibt es nur, weil wir soziale Wesen sind. Genau deswegen haben Menschen Kultur hervorgebr­acht“, sagt der Fanforsche­r.

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FOTO: DPA Da sieht man vor lauter Vereinslog­os den Fan nicht mehr: Fortuna-Fans Ende 2019 im Signal Iduna Park.

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