Die neue Musik spielt am Rhein
Die Musikgeschichte der Moderne ist undenkbar ohne drei große Komponisten, die alle im Rheinland wirkten: Bernd Alois Zimmermann, Karlheinz Stockhausen und Mauricio Kagel.
Im Hauptgebäude der Universität zu Köln ist das Musikwissenschaftliche Institut untergebracht. In einem der schönsten Zimmer residiert die Arbeitsgemeinschaft für rheinische Musikgeschichte. Als ich dort in den 80er Jahren mitarbeitete, füllte den Raum der Duft von Papier, Zettelkästen und Forscherschweiß. So langweilig, wie der Titel der Mini-Abteilung klingt, war es allerdings nie. Große Komponisten kamen von hier oder haben hier gelebt und gewirkt: Beethoven, Mendelssohn, Schumann, Offenbach.
Auch in jüngerer Zeit wurde es etwa im Bereich der Komposition nicht ruhig an Rhein und Ruhr. Wir als rheinische Zeitung könnten natürlich Düsseldorf als den Nabel betrachten und die großen Komponisten Revue passieren lassen, die mit der Landeshauptstadt verbunden sind: beispielsweise Jürg Baur, Günther Becker, Manfred Trojahn oder Thomas Blomenkamp. Doch unser erweiterter Horizont und die historische Gerechtigkeit bringen uns dazu, nach Köln zu schauen, denn dort spielte nach dem Krieg die Musik.
In Köln lebten und wirkten vor allem zwei Komponisten, die sich Gedanken über ihre Position in der jungen, aufbruchswilligen Welt der Tonkunst machten. Der eine war Bernd Alois Zimmermann (1918-970), der andere war Karlheinz Stockhausen (19282007). Beide stammen aus dem Linksrheinischen, jener aus Bliesheim, dieser aus Kerpen. Zimmermann war ein Erneuerer, weil er ein neues Format in die Musik brachte: das Komponieren in Schichten. Musik als Collage: Das war ein Kunstgriff, der dem Komponisten eine enorme gestalterische Freiheit spendete. Zimmermann operierte oft mit Zitaten aus Werken der Musikgeschichte, auch aus dem Jazz, die er seiner Musik individuell einmontierte.
Zimmermanns Gipfel ist die Oper „Die Soldaten“, ein epochal-grandioses Opus, das lange als unspielbar galt, eine Simultan-Oper, in der die Zeit als Träger von Struktur und
Konsequenz der Handlung neutralisiert scheint. Einige Szenen laufen gleichzeitig ab oder sind so verschoben, dass alles Gestern, Heute und Morgen aufgehoben ist. Man spricht bei diesem Werk ehrfürchtig von der „Kugelgestalt der Zeit“. Viele seiner Werke beruhen auf Literatur. Seine Collage-Technik machte dann auch vor Vokalwerken nicht Halt, etwa in seinem „Requiem für einen jungen Dichter“. Ganz anders Karlheinz Stockhausen. Der war kein Phantast, auch wenn er bisweilen den Eindruck vermittelte, er stecke mit seinem Kopf zwischen den Gestirnen. Als empfange er Nachrichten von fremden Planeten oder freundliche Botschaften von Engeln. Aber in Wirklichkeit war er hellwach. Und sehr lieb. In der glatt gebeizten Musikwelt der Moderne war Karlheinz Stockhausen
womöglich der letzte Sonderling, der letzte Fall des Ungebeugten, dessen Klangsprache etwas von verlorenen Paradiesen atmete. Stockhausen, dessen Name bei manchen Musikfreunden für das Schreckliche schlechthin steht, war ein sensibler Musiker, ein Horcher, ein Experimentator, einer, der sich nicht zufrieden gab mit dem, was ihm die Materie und die Instrumente anboten. In Köln studierte er Schulmusik, Musikwissenschaften, Germanistik und Philosophie. Komponist wurde er, indem Kurse besuchte, die ihn beflügelten – etwa den bei Olivier Messiaen 1949 in Paris, wo er die Buchstabensuppe des Serialismus löffeln lernte. Die 50er Jahre standen im Zeichen der Arbeit im elektronischen Studio des WDR. Elektroakustische Musik war damals Neuland, aber Stockhausen war kein Feld zu weit. Sein „Gesang der Jünglinge“ist das zentrale Werk dieser Zeit, und wer es live gehört hat, bekam einen ungeheuren Eindruck von insistierender Kunst, für die Klänge ein Transportmittel zur Verkündigung sind. 362 einzelne Werke hat Stockhausen hinterlassen, aber nur wenige haben seine Sphinxhaftigkeit so deutlich eingefangen wie das überdimensionale Musiktheaterprojekt „Licht“, eine verblasen-religiöse, unendlich gut gemeinte und bisweilen tatsächlich grandiose Musik über die sieben Wochentage. Ihnen liegt eine „Superformel“zugrunde, in welcher drei Melodien für Eva, Michael und Luzifer aufgehen. Das Ganze dauert 29 Stunden und ist noch nie am Stück aufgeführt worden, zumal man einmal vier Helikopter gleichzeitig benötigt.
Ein Wahl-Rheinländer hingegen war der 1931 in Buenos Aires geborene Mauricio Kagel, der Erfinder der musikalischen Ironie im Musiktheater des 20. Jahrhunderts. Er besaß die obskure Neigung, nicht sich selbst, sondern die Welt für den wichtigsten Lieferanten von Ideen zu halten. Kagel war ein leidenschaftlicher Raubkopierer, der mit Beethoven grelle Späße trieb („Ludwig van“), Mobiltelefone diebisch als Instrumente nutzte, den Staat in geistreiches Gewahrsam nahm (in „Staatstheater“) oder dessen Liedersammlungen plünderte („Aus Deutschland“). Logischerweise war er derjenige Komponist hierzulande, der die meisten Drohbriefe bekam. Und übrigens fast alle beantwortete. Gegen einige Schreiber prozessierte er. Kagel begründete keine Schule, keine Theorie. Er stand für sich.
1969 hatte man Kagel zum Direktor des Instituts für Neue Musik an der Rheinischen Musikschule Köln bestellt und – als Nachfolger von Karlheinz Stockhausen – zum Leiter der Kölner Kurse für Neue Musik (bis 1975) ernannt; 1974 erhielt er an der Kölner Musikhochschule eine Professur für Musiktheater. Mit Stockhausen verband Kagel wenig – dieser war ein Himmelsforscher und Sterngucker, Kagel war einer, der lieber die Mülleimer absuchte, was in ihnen an Vitalem und Klanglichem verborgen war. Bei Kagel fühlte man sich immer originell behandelt, der Mann hatte Humor. Aber in dieser Heiterkeit lag auch sein Grimm.
Sie alle haben wir damals im Zimmer der Arbeitsgemeinschaft für rheinische Musikgeschichte andächtig verfolgt. Von diesem Trio ging eine Strahlkraft aus, die in der ganzen Welt für Erleuchtung sorgte.