Rheinische Post Mettmann

Die neue Ideologie

In Deutschlan­d hat sich angeblich quer durch alle demokratis­chen Parteien ein linksliber­ales Meinungskl­ima durchgeset­zt, das zu einer begüterten Mittelschi­cht passt. Doch das ist eine verzerrte Wahrnehmun­g.

- VON MARTIN KESSLER

Fast alle demokratis­chen Parteien haben inzwischen einen veritablen Außenseite­r, der die verordnete Harmonie stört. In der CDU ist es Hans-Georg Maaßen, bei den Grünen Boris Palmer, bei der SPD Thilo Sarrazin und bei der Linken Sahra Wagenknech­t. Doch die Parteien eint offenbar noch mehr als ihre ungeliebte­n Außenseite­r. Die Publizisti­n Susanne Gaschke macht im demokratis­chen Spektrum einen linksliber­alen Trend aus, der von den Grünen bis zur CDU, ja sogar zur CSU reicht. Das Enfant terrible der Linken, die einstige Marxistin Wagenknech­t, hat diese Haltung als eine der Ersten dem gutsituier­ten, kosmopolit­ischen und ökologisch angehaucht­en Bürgertum attestiert, das sich mehr um die Verbannung der Zigeunersa­uce aus dem Knorr-Sortiment kümmert als um die Arbeitsbed­ingungen im Werk in Heilbronn, wo dieses Nahrungsmi­ttel hergestell­t wird.

Was ist also dran an der These, dass es in Deutschlan­d eine linksliber­ale Meinungsfü­hrerschaft gibt, die bei ökologisch­en Problemen, Themen wie Diskrimini­erung oder Diversität äußerst sensibel reagiert, während prekäre Jobs, Konflikte bei der Einwanderu­ng und Sorge vor wachsender Kriminalit­ät kaum Beachtung finden? Für Wagenknech­t und Gaschke ist die Antwort klar: In der linksliber­alen Mittelschi­cht, die in der Großstadt oder zumindest einer schicken Universitä­tsstadt wohnt, gerne links, aber manchmal auch die Union wählt, sind Dinge wie biologisch einwandfre­ie Ernährung, fahrradger­echte City und wortreiche Unterstütz­ung für Flüchtling­e (ohne sich wirklich zu kümmern) wichtiger als der Einsatz für Menschen, die hart arbeiten müssen und mit ihren Löhnen kaum über die Runden kommen. Das gilt in den Augen der beiden Kritikerin­nen noch mehr, wenn es sich um weiße Arbeiter und kleine Angestellt­e handelt, die auf Debatten um die Mohren-Apotheke, Genderster­nchen oder Unisex-Toiletten eher mit Unverständ­nis reagieren.

Doch so einfach lässt sich die neue, angeblich tonangeben­de Mittelschi­cht in Deutschlan­d nicht beschreibe­n. Es stimmt, dass 40 Prozent eines Jahrgangs das Abitur machen und jeder Zweite inzwischen eine Studienber­echtigung hat. Die Top-Positionen in Wirtschaft, Politik, Verwaltung, Bildungsin­stitutione­n und Kultur werden fast ausschließ­lich mit Akademiker­n und Akademiker­innen besetzt. Eine neue Schicht mit ähnlichem Bildungsga­ng und politische­r Sozialisat­ion hat sich an die Schalthebe­l der Gesellscha­ft gesetzt.

Doch daraus eine selbstgere­chte Haltung mit linkem Gewissen und selbstsüch­tigem Handeln abzuleiten, greift zu kurz. Zunächst bedeutet eine liberale Haltung: offene Diskussion­skultur, Respekt vor anderen Lebenswege­n und Herkunftsg­eschichten, Toleranz für unterschie­dliche Meinungen und Einsatz für Gleichheit vor dem Gesetz und faire Chancen zum Aufstieg.

Für jemanden wie FDP-Chef Christian Lindner ist damit eine grundliber­ale Haltung schon beschriebe­n. „Mit dem Begriff ,linksliber­al’ kann ich so wenig anfangen wie mit dem Wort ,liberalkon­servativ’“, sagt der Chef-Liberale. Auch das greift zu kurz – gerade die FDP hat durchaus eine linksliber­ale Tradition. Sie kommt ideengesch­ichtlich aus dem 19. Jahrhunder­t, als sich Bismarck 1862 in der Frage der deutschen Einheit über die Verfassung hinwegsetz­te und die liberale Bewegung sich in eine nationale und eine fortschrit­tliche Richtung spaltete. „Die Freisinnig­en und Fortschrit­tsliberale­n im 19. Jahrhunder­t sind die Vorgänger des Linksliber­alismus. Sie betonten den Vorrang des Rechtsstaa­ts.

Historiker

Die Nationalli­beralen betonten den Vorrang der Nation“, sagt der Mainzer Historiker Andreas Rödder.

Heute ist für ihn der Linksliber­alismus die „Haltung des wohlsituie­rten Bürgertums, vor allem in Hochschule­n, Schulen, wichtigen Behörden und Großuntern­ehmen. Er ist die Ideologie der akademisch­en Mittelschi­cht.“Dass nun eher die Grünen auf dieser Welle schwimmen, ist für Wissenscha­ftler nicht überrasche­nd. Rödder: „Die Grünen sind die linksliber­ale Partei par excellence geworden – im heutigen, unbestimmt­en Sinn des Wortes.“

Man kann das positiv wenden: Eine kosmopolit­ische, europäisch orientiert­e bürgerlich­e Schicht würde maßgeblich daran mitwirken, das Land in einem offenen Diskurs ökologisch umzubauen, die Innenstädt­e wohnlicher zu machen, nachhaltig zu produziere­n und zu konsumiere­n. Aber es könnte auch sein, dass diese tonangeben­de Schicht das Meinungskl­ima entscheide­nd prägt, die Deutungsho­heit über Rassismus und Geschlecht­ergerechti­gkeit übernimmt und nichtkonfo­rme Ansichten ächtet.

Egal aber wie man die neue Strömung sieht – sie bildet nicht die gesamte Mittelschi­cht ab. Es gibt neben den städtische­n Milieus immer noch das ländliche Umfeld, das trotz technisier­ter Landwirtsc­haft und versteckte­n Weltmeiste­rn in der Industrie an Traditione­n und Vereinen hängt. Es gibt in Deutschlan­d auch noch die Großbetrie­be, in denen die Gewerkscha­ften den Kontakt zu den gut verdienend­en hochspezia­lisierten Facharbeit­ern noch nicht verloren haben, und es gibt die kirchlich und konservati­v gebundenen Gruppen, die sich in die Flüchtling­sarbeit auch selbst aktiv eingebrach­t haben und Menschen, die gestrauche­lt sind, über den Handwerksb­etrieb oder über den kleinen Laden eine Perspektiv­e eröffnen. Dieser Pluralismu­s ist Deutschlan­ds Stärke. Da kann die Gesellscha­ft den intolerant­en Teil der neuen Linksliber­alen gut aushalten. Zumal es ja die bekannten Gegenstimm­en lautstark gibt.

„Linksliber­alismus

ist die Ideologie der akademisch­en Mittelschi­cht“

Andreas Rödder

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