Die neue Ideologie
In Deutschland hat sich angeblich quer durch alle demokratischen Parteien ein linksliberales Meinungsklima durchgesetzt, das zu einer begüterten Mittelschicht passt. Doch das ist eine verzerrte Wahrnehmung.
Fast alle demokratischen Parteien haben inzwischen einen veritablen Außenseiter, der die verordnete Harmonie stört. In der CDU ist es Hans-Georg Maaßen, bei den Grünen Boris Palmer, bei der SPD Thilo Sarrazin und bei der Linken Sahra Wagenknecht. Doch die Parteien eint offenbar noch mehr als ihre ungeliebten Außenseiter. Die Publizistin Susanne Gaschke macht im demokratischen Spektrum einen linksliberalen Trend aus, der von den Grünen bis zur CDU, ja sogar zur CSU reicht. Das Enfant terrible der Linken, die einstige Marxistin Wagenknecht, hat diese Haltung als eine der Ersten dem gutsituierten, kosmopolitischen und ökologisch angehauchten Bürgertum attestiert, das sich mehr um die Verbannung der Zigeunersauce aus dem Knorr-Sortiment kümmert als um die Arbeitsbedingungen im Werk in Heilbronn, wo dieses Nahrungsmittel hergestellt wird.
Was ist also dran an der These, dass es in Deutschland eine linksliberale Meinungsführerschaft gibt, die bei ökologischen Problemen, Themen wie Diskriminierung oder Diversität äußerst sensibel reagiert, während prekäre Jobs, Konflikte bei der Einwanderung und Sorge vor wachsender Kriminalität kaum Beachtung finden? Für Wagenknecht und Gaschke ist die Antwort klar: In der linksliberalen Mittelschicht, die in der Großstadt oder zumindest einer schicken Universitätsstadt wohnt, gerne links, aber manchmal auch die Union wählt, sind Dinge wie biologisch einwandfreie Ernährung, fahrradgerechte City und wortreiche Unterstützung für Flüchtlinge (ohne sich wirklich zu kümmern) wichtiger als der Einsatz für Menschen, die hart arbeiten müssen und mit ihren Löhnen kaum über die Runden kommen. Das gilt in den Augen der beiden Kritikerinnen noch mehr, wenn es sich um weiße Arbeiter und kleine Angestellte handelt, die auf Debatten um die Mohren-Apotheke, Gendersternchen oder Unisex-Toiletten eher mit Unverständnis reagieren.
Doch so einfach lässt sich die neue, angeblich tonangebende Mittelschicht in Deutschland nicht beschreiben. Es stimmt, dass 40 Prozent eines Jahrgangs das Abitur machen und jeder Zweite inzwischen eine Studienberechtigung hat. Die Top-Positionen in Wirtschaft, Politik, Verwaltung, Bildungsinstitutionen und Kultur werden fast ausschließlich mit Akademikern und Akademikerinnen besetzt. Eine neue Schicht mit ähnlichem Bildungsgang und politischer Sozialisation hat sich an die Schalthebel der Gesellschaft gesetzt.
Doch daraus eine selbstgerechte Haltung mit linkem Gewissen und selbstsüchtigem Handeln abzuleiten, greift zu kurz. Zunächst bedeutet eine liberale Haltung: offene Diskussionskultur, Respekt vor anderen Lebenswegen und Herkunftsgeschichten, Toleranz für unterschiedliche Meinungen und Einsatz für Gleichheit vor dem Gesetz und faire Chancen zum Aufstieg.
Für jemanden wie FDP-Chef Christian Lindner ist damit eine grundliberale Haltung schon beschrieben. „Mit dem Begriff ,linksliberal’ kann ich so wenig anfangen wie mit dem Wort ,liberalkonservativ’“, sagt der Chef-Liberale. Auch das greift zu kurz – gerade die FDP hat durchaus eine linksliberale Tradition. Sie kommt ideengeschichtlich aus dem 19. Jahrhundert, als sich Bismarck 1862 in der Frage der deutschen Einheit über die Verfassung hinwegsetzte und die liberale Bewegung sich in eine nationale und eine fortschrittliche Richtung spaltete. „Die Freisinnigen und Fortschrittsliberalen im 19. Jahrhundert sind die Vorgänger des Linksliberalismus. Sie betonten den Vorrang des Rechtsstaats.
Historiker
Die Nationalliberalen betonten den Vorrang der Nation“, sagt der Mainzer Historiker Andreas Rödder.
Heute ist für ihn der Linksliberalismus die „Haltung des wohlsituierten Bürgertums, vor allem in Hochschulen, Schulen, wichtigen Behörden und Großunternehmen. Er ist die Ideologie der akademischen Mittelschicht.“Dass nun eher die Grünen auf dieser Welle schwimmen, ist für Wissenschaftler nicht überraschend. Rödder: „Die Grünen sind die linksliberale Partei par excellence geworden – im heutigen, unbestimmten Sinn des Wortes.“
Man kann das positiv wenden: Eine kosmopolitische, europäisch orientierte bürgerliche Schicht würde maßgeblich daran mitwirken, das Land in einem offenen Diskurs ökologisch umzubauen, die Innenstädte wohnlicher zu machen, nachhaltig zu produzieren und zu konsumieren. Aber es könnte auch sein, dass diese tonangebende Schicht das Meinungsklima entscheidend prägt, die Deutungshoheit über Rassismus und Geschlechtergerechtigkeit übernimmt und nichtkonforme Ansichten ächtet.
Egal aber wie man die neue Strömung sieht – sie bildet nicht die gesamte Mittelschicht ab. Es gibt neben den städtischen Milieus immer noch das ländliche Umfeld, das trotz technisierter Landwirtschaft und versteckten Weltmeistern in der Industrie an Traditionen und Vereinen hängt. Es gibt in Deutschland auch noch die Großbetriebe, in denen die Gewerkschaften den Kontakt zu den gut verdienenden hochspezialisierten Facharbeitern noch nicht verloren haben, und es gibt die kirchlich und konservativ gebundenen Gruppen, die sich in die Flüchtlingsarbeit auch selbst aktiv eingebracht haben und Menschen, die gestrauchelt sind, über den Handwerksbetrieb oder über den kleinen Laden eine Perspektive eröffnen. Dieser Pluralismus ist Deutschlands Stärke. Da kann die Gesellschaft den intoleranten Teil der neuen Linksliberalen gut aushalten. Zumal es ja die bekannten Gegenstimmen lautstark gibt.
„Linksliberalismus
ist die Ideologie der akademischen Mittelschicht“
Andreas Rödder