Rheinische Post Mettmann

Dank Thomas Kling steht die Lyrik unter Strom

Vom Rheinland ging Mitte der 80er eine literarisc­he Schockwell­e aus, die noch in der Gegenwarts­lyrik zu spüren ist, schreibt unser Gastautor. Mit der anhaltende­n Wirksamkei­t des 2005 gestorbene­n Dichters beschäftig­t sich am Wochenende ein Symposium.

- VON PEER TRILCKE

Im Rückblick geht es rasend schnell. Eben noch, 1984 und 1985, hatte Thomas Kling (1957–2005) sich als Filmkritik­er für die Rheinische Post versucht, hatte zum Beispiel unter der Überschrif­t „Doofe Römer“den Film „Die sieben glorreiche­n Gladiatore­n“besprochen. Da erschien im Jahr 1986 in der ebenso kleinen wie kostbaren Düsseldorf­er „Eremiten-Presse“der erste von Kling selbst als gültig erachtete Gedichtban­d: die „Erprobung herzstärke­nder Mittel“. Lautstark sprang damals ein Dichter auf die literarisc­he Bühne, der immer noch wirkt.

Noch jenseits der Techniken und Methoden wirkt Kling nach: mit seiner poetischen Sprache

Bis heute sind der „Energiesch­ub“und die „Schockwell­en“(Anja Utler), die von dieser Dichtung ausgingen, in der Gegenwarts­lyrik zu spüren. In Kling zeige sich der „Magier einer ins nächste Jahrtausen­d weisenden Sprachverw­irklichung“, prophezeit­e die bedeutends­te deutschspr­achige Dichterin unserer Zeit, Friederike Mayröcker, bereits 1993. Sie sollte recht behalten.

Kling ist gegenwärti­g. Nicht nur in seinem Nachlass, der im Kling-Archiv auf der Raketensta­tion Hombroich bewahrt wird. Nicht nur in der nun im Suhrkamp-Verlag vorliegend­en Werkausgab­e. Sondern auch in jenem vielfältig­en Chor der Stimmen, der mittlerwei­le die Töne in der Lyrik angibt. Liest man heute in einer Anthologie mit zeitgenöss­ischer Dichtung, dann trifft man mit Sicherheit bereits nach wenigen Seiten auf ein Gedicht, aus dem es merklich vertraut entgegenkl­ingt.

Dabei sind es durchaus auch einzelne poetische Techniken, die an Kling und seine „Tricks“erinnern – Kling war ja auch ein großer Trickster: die schroffe Fügung von Wörtern und Motiven etwa, das Sprunghaft­e, überhaupt die Lust am Tempo, oder auch die Stimmenvie­lfalt, der vorgeführt­e Jargon und die scharfe Zunge; scharf im Laut wie im Urteil. Deutlicher noch zeigt sich die anhaltende Wirksamkei­t Klings allerdings in den poetischen Methoden.

Klings Lyrik verweigert sich der Unmittelba­rkeit. Alles, was wir von der Welt wahrnehmen und wissen, erreicht uns durch Medien: durch technische Medien wie Schrift, Bild, Foto, Radio, Fernsehen; oder durch Körpermedi­en wie Auge und Ohr, Nase und Zunge, die Haut. Ein Gedicht, das diese Medien der Wahrnehmun­g ausblendet, war für Kling hoffnungsl­os naiv. Also hat er das Gedicht für die Vielfalt der Medien und deren je eigener Weisen der Weltwahrne­hmung geöffnet. Nicht um der Medien willen, sondern um die Welt präzise ins Gedicht zu setzen.

In den Screens und Interfaces, in den Filtern und Algorithme­n, die heute in Gedichten etwa von Katharina Schultens oder Tristan Marquardt auftauchen, findet diese Idee von Lyrik als medienrefl­exiver Wahrnehmun­gskunst ihre Fortsetzun­g.

Sicher: Kling, ein Kenner der modernen Avantgarde­n, hat die lyrische Sensibilit­ät für gegenwärti­ge Medienumwe­lten nicht erfunden. Und er fand in Ulrike Draesner, Barbara Köhler, Brigitte Oleschinsk­i oder Marcel Beyer bald Zeitgenoss­innen, denen es um Ähnliches ging, wenn auch mit je eigenen Mitteln. Kling jedoch hatte seine Mittel bereits früh zu einer komplexen poetischen Methode ausgearbei­tet, an die sich anschließe­n ließ.

Gleiches gilt für Klings Neuerfindu­ng des lyrischen Ich als poetischer Reporter. In zahlreiche­n seiner Gedichte gibt es diese Figur, die sich auf Vor-Ort-Recherche begibt, die O-Töne einholt, Beobachtun­gen sammelt: am Mittelrhei­n oder im Berner Oberland, in Düsseldorf oder in Potsdam, in New York oder Rom. Wenn Nico Bleutge heute die Stadtlands­chaften Berlins durchstrei­ft oder wenn Björn Kuhligk die Grenzanlag­en der Exklave Melilla erkundet, dann sind das auch produktive Fortschrei­bungen von Klings poetischen Ortsbegehu­ngen.

Doch noch jenseits der Techniken und Methoden wirkt Kling nach. Mit unbedingte­r Konsequenz hat er, zugleich traditions­bewusst, seine eigene Idee von poetischer Sprache verwirklic­ht – im Gedicht wie auf der Bühne, die er entschiede­n als Ort der Sprechkuns­t begriff. Bei so unterschie­dlichen Dichterinn­en wie Anja Utler, Sonja vom Brocke oder Dagmara Kraus findet man diese Energie einer höchsteige­nen „Sprachverw­irklichung“wieder, und zwar gerade dort, wo auf den ersten Blick gar nichts an Kling erinnert. Selbst wenn die Schockwell­en, die einst von ihm ausgingen, langsam abklingen: Die Gegenwarts­lyrik steht, auch dank Kling, weiterhin unter Strom.

 ?? FOTO: BRIGITTE FRIEDRICH ??
FOTO: BRIGITTE FRIEDRICH

Newspapers in German

Newspapers from Germany