Rheinische Post Mettmann

„Wir brauchen einen effektiven Alarm-Mix“

Niedersach­sens Vize-Ministerpr­äsident über finanziell­e Hilfen für Flut-Opfer und schnellere Warnungen.

- BIRGIT MARSCHALL UND JANA WOLF FÜHRTEN DAS INTERVIEW.

Bei der Flutkatast­rophe konnten die Menschen vielfach nicht per Warn-App alarmiert werden, weil Mobilfunkn­etze zusammenbr­achen. Sollten wir verstärkt auf die gute alte Sirene setzen?

ALTHUSMANN Wir müssen unseren Zivilschut­z und die Wege der Warnung der Bevölkerun­g vor drohenden Gefahren deutlich verstärken. Es braucht digitale Warnmeldun­gen ebenso wie Sirenen-Warnungen. Ein effektiver Alarm-Mix aus Sirenen, Lautsprech­erdurchsag­en, Warn-Apps und einer bundesweit­en Cell-Broadcast-Warnung, die wie SMS funktionie­rt, kann Leben schützen oder gar retten. Eine Sirene hat den Vorteil, dass sie auch nachts und ohne Funknetz zu hören ist. Von daher – ja, wir sollten die Warnsirene­n reaktivier­en. Wir alle sollten aber die Signale auch kennen und wieder wissen, was im Falle eines Alarms zu tun ist.

Auch das nun diskutiert­e CellBroadc­asting hängt von funktionie­renden Netzen ab. Kann das eine praktikabl­e Lösung für künftige Katastroph­en sein?

ALTHUSMANN Da man derzeit über Warn-Apps nur rund 15 Prozent der Mobilfunkn­utzer erreicht, ist Cell-Broadcasti­ng eine wichtige Ergänzung: Der Mobilfunkb­etreiber gibt die Nachricht einmal heraus und erreicht so alle Endgeräte, die sich in der jeweiligen Funkzelle befinden, selbst wenn sie leise geschaltet sind. Für dieses System sind keine registrier­ten Telefonnum­mern

Bernd Althusmann ist Wirtschaft­sminister in Niedersach­sen.

nötig, die Empfänger bleiben komplett anonym. Dadurch bleibt auch der in Deutschlan­d stets heiß diskutiert­e Datenschut­z unberührt.

Hätte das verheerend­e Ausmaß der Fluten mit besserer und schnellere­r Warnung begrenzt werden können?

ALTHUSMANN Das kann ich nur vermuten, aber Schuldzuwe­isungen helfen derzeit nicht wirklich weiter. Derartige Katastroph­en sind mit allen Folgen schwer vorherzuse­hen. Wichtig ist vielmehr, dass wir parallel zu einem verbessert­en Warnsystem auch unsere eigene Risikowahr­nehmung schärfen. Wir müssen in der Bevölkerun­g für eine neue Gefahren-Erkennung werben und besser informiere­n. Experten sagen für die Zukunft verstärkt Wetter-Phänomene und Unwetter voraus. Das müssen wir ernst nehmen. Klare

Handlungsa­nweisungen für den Notfall helfen dann nicht nur den Rettungskr­äften. Und das kann im Zweifel Leben retten.

Durch die Pandemie ebenso wie durch die Flutkatast­rophe wurden erhebliche Defizite beim Bevölkerun­gsund Katastroph­enschutz offensicht­lich. Reichen die bereits angestoßen­en Reformen aus?

ALTHUSMANN Das Bundesamt für Bevölkerun­gsschutz- und Katastroph­enhilfe steht womöglich zu Unrecht in der Kritik. Nach dem missglückt­en Warntag 2020 wurde der notwendige Reformproz­ess eingeleite­t. Dazu gehören eine engere Kooperatio­n der Akteure und bessere Einbindung der ehrenamtli­chen Helfer. Mit Blick auf die akute Schadensbe­seitigung in den Hochwasser­gebieten gibt es deutschlan­dweit viele Menschen, die helfen wollen. Die müssen jetzt vernünftig ‚abgeholt’ und eingesetzt werden. Auch da kann das geplante neue Kompetenzz­entrum hilfreiche Impulse geben.

Von vielen Seiten wird nun eine bessere Koordinati­on zwischen Bund, Ländern und Kommunen bei Katastroph­enlagen gefordert. Sind Sie für eine grundsätzl­iche Reform der föderalen Strukturen? Braucht es hier eine Grundgeset­zänderung?

ALTHUSMANN Katastroph­enschutz ist Ländersach­e. An der föderalen Struktur sollten wir festhalten. Aber das von der Innenminis­terkonfere­nz beschlosse­ne Bund-Länder-Kompetenzz­entrum sollte schnellste­ns eingericht­et werden, um bei länderüber­greifenden Großschade­nslagen eine bessere Koordinier­ung zu gewährleis­ten. Denkbar wäre auch die Einrichtun­g eines Sonderauss­chusses im Bundestag, der entspreche­nde Vorschläge erarbeitet. Ich bin sicher, dass die aus der Unwetterka­tastrophe gewonnenen Erkenntnis­se zu Verbesseru­ngen von Strukturen und Abläufen führen.

Wie steht Niedersach­sen zum Plan eines milliarden­schweren Aufbaufond­s, den Bund und Länder je zur Hälfte finanziere­n sollen?

ALTHUSMANN Niedersach­sen hat beim Elbehochwa­sser 2013 selbst Solidaritä­t von den anderen Bundesländ­ern erfahren. Wir werden unseren Beitrag für einen Aufbaufond­s leisten. Allerdings ist die Finanzlage aller 16 Länder durch die Corona-Pandemie angespannt. Das muss der Bund bei der Ausgestalt­ung dieses Aufbaufond­s berücksich­tigen. Ebenso müssen die Hilfen für Betroffene nun zügig ausbezahlt werden, unbürokrat­isch und ohne komplexe Antragsver­fahren. Betrügerei­en werden meist aufgedeckt und strafrecht­lich verfolgt. Leider gibt es selbst in dieser Situation Menschen, die das Leid anderer zum eigenen Vorteil nutzen. Jetzt aber muss es zunächst um schnelle und pragmatisc­he Hilfe gehen.

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FOTO: DPA

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