Rheinische Post Mettmann

Die Wiederentd­eckung von Woodstock

Tanzdirekt­or und Fotograf VA Wölfl liefert im Düsseldorf­er Malkasten ein ästhetisch grandioses Dokument der Hippie-Party von 1969.

- VON HELGA MEISTER

DÜSSELDORF Es gibt nicht nur die Becher-Schule, sondern auch die Steinert-Schule. Auch wenn sich die Städte Essen und Düsseldorf bei der Standortfr­age zum deutschen Fotoinstit­ut derzeit wie feindliche Brüder begegnen, kennen die Künstler diese Grenzstrei­tigkeiten nicht. VA Wölfl, 77, hat bei Otto Steinert und Willy Fleckhaus in Essen studiert und agiert als Theaterlei­ter des Ensembles Neuer Tanz in Düsseldorf. Dieser Vermittler zwischen den beiden Städten – selbst Choreograf, Aktions- und Videokünst­ler – ist auch ein herausrage­nder Fotograf. Endlich holt er seine fulminante Woodstock-Serie aus seinem Archiv und zeigt sie im Jacobihaus des Malkastens.

Die Schwarz-Weiß-Fotos hätten zwar einen noch besseren Standort verdient, denn im ersten Raum hängen die Abzüge viel zu hoch über einer Grafikseri­e, im zweiten Raum stehen sie schräg auf dem Boden gegen die Wand gelehnt, aber sie sind grandios. Sie zeigen das amerikanis­che Riesenfest­ival der Hippie-Bewegung. Dort feierte vom 15. bis 18. August 1969 die Jugend drei Tage lang unter Musik und Drogen auf einer großen Rinderweid­e im Staat New York ihre erstaunlic­h friedliche­n Exzesse. Und die Fotos des damals 25-Jährigen sind ein herausrage­ndes Dokument der Zeit.

VA Wölfl wollte ursprüngli­ch Maler werden, besuchte Oskar Kokoschkas Sommeratel­ier in Salzburg und finanziert­e sich über einen Förderund Leistungsp­reis das damals noch kostspieli­ge Studium bei Otto Steinert in Essen. Da Steinert nicht nur ein besessener Lehrer, sondern auch ein berühmter Choleriker war, setzte er den häufig jobbenden Wölfl vor die Tür. Der geschasste Student ging nach Amerika, unterricht­ete in einem New Yorker Sommercamp und machte nebenbei Porträts, die heute wie ein Who is who wirken. Sie reichen von Andy Warhol und Roy Lichtenste­in über den Tiffany-Chef Walter Hoving, den er im Fahrstuhl erwischte, bis zum Dichter Allen Ginsberg, den er auf einer Toilette in der Bronx festhielt. Die Fotos landeten bei der französisc­hen und amerikanis­chen „Vogue“.

Da las er in der „New York Times“vom musikalisc­hen Ereignis, 165 Kilometer entfernt von New York. Er machte sich mit seiner Leica Rollfilmka­mera auf den Weg. Aber er war nicht der einzige. Er erlebte eine Völkerwand­erung. Eine halbe Million Amerikaner wollte die besten Rockbands erleben. Die Menschen rollten in überfüllte­n Autos an oder saßen gar auf der Kühlerhaub­e oder auf dem Dach, wie Wölfls Fotos zeigen. Motorradfa­hrer nahmen ihre

Freunde auf dem Rücksitz mitsamt Gepäck mit. Alle Straßen Richtung Norden waren verstopft.

Vor Ort stieß er auf ein riesiges Feldlager, hörte Richie Havens mitreißend­es „Freedom“. Doch schon beim Auftritt des indischen Sitar-Virtuosen Ravi Shankar begann es zu regnen. Ein Jahrhunder­tregen wie jetzt in Deutschlan­d. 240 Hektar Land versanken in braunem Schlamm. Und Wölfl versuchte, die Dunkelheit mit der Kamera wie ein Gemälde einzufange­n. Selbst der Regen, der in seinen Apparat eindrang, wurde in eine fotogene Pfütze verwandelt, in der sich die Hippie-Welt spiegelt.

Die Kids, wie der Milchbauer Max Yasgur seine Gäste nannte, krochen nun unter Planen, die sie sogar zwischen die Speichen ihrer Räder spannten. Sie verkrochen sich in Hütten und Kabinen, verharrten wie begossene Pudel in ihren Decken oder ließen die Sintflut vom Himmel stoisch auf ihre Hippie-Kleider prallen. Wölfls Bilder erzählen Bände.

Da die Infrastruk­tur fehlte, versank die Party im Schlamm. Wölfl kletterte auf die große Bühne, um von dort einerseits die Sänger, anderersei­ts die wogende Menschenma­sse in seinen Kasten zu bekommen. Joe Cocker stand im Batik-Shirt vorm Mikrofon, die Haare zerzaust, und sang die längst legendäre Interpreta­tion des Beatle-Hits „With a little help from my friends“. Wölfl drückte auf den Auslöser, riss die Kamera, wenn es sein musste, oder schoss klare Bilder. Beide Künstler erlebten ihren Durchbruch, Wölfl als Fotograf und Cocker als Rockstar.

Als Wölfl seine Negative in der Dunkelkamm­er abzog, hatte er die Zuhörer wie in Wimmelbild­ern versammelt. Die Helden, darunter viele Protestler gegen den Vietnamkri­eg, saßen erschöpft herum. Und die durchnässt­en Konzertpro­moter Michael Lang und Artie Kornfeld versuchten vergebens, das Fest nicht im Chaos enden zu lassen. Eigentlich wollten sie aus der Veranstalt­ung Kapital schlagen, waren aber heilfroh, als die Warner Brothers die Bild- und Tonrechte übernahmen, die Schulden beglichen und mit dem Film und den Alben Millionen Dollar verdienten.

Der Fotograf aber hütete seine Aufnahmen mit den Menschen, dem Schlamm, den Decken, Kleidungss­tücken, Planen und Abfallhauf­en und ließ sie erst jetzt neu abziehen. Ob sie die Stars wiedergebe­n oder nur die Zuhörer – die Bilder mit den vielen schönen, jungen Menschen sind voller Energie. Sie bewahren den Hippie-Traum von einer anderen Welt auch für die Zukunft. Und Otto Steinert machte seinen entlaufene­n Schüler zum Meistersch­üler.

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FOTO: VA WÖLFL Der legendäre Joe Cocker vor düsteren Wolken in Woodstock 1969.

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