Rheinische Post Mettmann

„Ich habe sechs Anschläge hinter mir. Manche direkt auf mich, manche auf die Gruppe, in der ich dabei war“

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Als junger Mann engagiert er sich kurzzeitig im deutsch-türkischen Forum der CDU. Aus Protest gegen eine Kampagne gegen die doppelte Staatsbürg­erschaft. Drei Jahre später kommt er über eine Geschäftsf­rau mit Erdogan in Kontakt, der damals bereits Ministerpr­äsident der Türkei ist. Pir hilft dabei, die UID aufzubauen, die Union Internatio­naler Demokraten. Eine AKP-Lobbyorgan­isation, mittlerwei­le vom Verfassung­sschutz beobachtet. Wie viele Türken glaubt Pir damals, Erdogan wolle die Türkei demokratis­ieren: „Jetzt sind wir Feinde.“

Ziya Pir ist nicht der Mann für revolution­äre Wandparole­n. Doch der Name überlagert zunächst alles. Wie sehr, merkt Pir nach seiner Ankunft in der Türkei. Wöchentlic­h muss er aus Angst vor Anschlägen die Wohnung wechseln. Wenn er im Wahlkampf redet, wird er teilweise mit dem Namen seines Onkels vorgestell­t. „Das Tragische ist: Jeder hat ein anderes Bild von Kemal Pir im Kopf. Und jeder möchte dich so sehen“, sagt er.

Sechs Monate nachdem Pir ins Parlament eingezogen ist, gibt es in der Türkei schon wieder Neuwahlen. In der Zwischenze­it ist der Konflikt zwischen PKK und türkischem Staat eskaliert. Erdogans AKP profitiert und gewinnt die absolute Mehrheit zurück. Pir wird wiedergewä­hlt, ist aber immer weniger im Parlament. Auf den Straßen Diyarbakir­s liefern sich kurdische Demonstran­ten und türkische Sicherheit­skräfte Kämpfe. Zivilisten sterben, teilweise vor Pirs Augen: „Es sollte Krieg geben. Das weiß ich heute. Da kann man als Politiker überhaupt nichts mehr tun.“

Im Moment seines schlimmste­n Tiefpunkts stehen zwei Dutzend schwer bewaffnete Polizisten vor Pirs Wohnung. Es ist die Nacht zum 4. November 2016, die Lage in der Türkei hat sich nach dem Putschvers­uch im Sommer zuvor noch verschärft. Im Land herrscht Ausnahmezu­stand, Opposition­elle werden verfolgt. Die Immunität der HDP-Abgeordnet­en ist aufgehoben. Im Fernsehen hat Pir gerade noch gesehen, wie seine Kollegen festgenomm­en werden. Dann klingelt es auch bei ihm. Auf der Straße parken Wasserwerf­er. „Die haben richtig Show gemacht“, sagt Pir.

Die Nacht bleibt Pirs einzige in Gewahrsam. Mit ihm werden zahlreiche weitere HDP-Führungska­der festgenomm­en. Viele, wie der Parteivors­itzende Selahattin Demirtas, sind bis heute im Gefängnis.

Am 20. Juni 2018 endet Pirs Zeit in der türkischen Politik. „Ich bleibe jetzt hier, ich gehe nicht“, hatte er nach der Nacht in Gewahrsam noch gesagt. Bis zuletzt liebäugelt er damit, bei der Parlaments­wahl 2018 erneut anzutreten. Doch die Partei kann für seine Sicherheit nicht mehr garantiere­n: „Ich habe sechs Anschläge hinter mir. Manche direkt auf mich, manche auf die Gruppe, in der ich dabei war.“Mal sind es 30 Meter Abstand, mal 30 Sekunden, die eine Bombe während einer Demonstrat­ion in Ankara spät genug explodiert. Sie sorgen dafür, dass Pir die Körperteil­e seiner Freunde aufsammelt und sie nicht seine. Dass er nicht mehr vor Ort ist, plagt ihn bis heute. „Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen“, sagt er.

Pir lebt wieder am Niederrhei­n, hat ein neues Unternehme­n aufgebaut. Wo, soll öffentlich nicht bekannt werden. Auch in Deutschlan­d ist er gefährdet: „Wenn mir jemand wirklich etwas antun will, findet er raus, wo ich wohne, wo ich arbeite, wo ich essen gehe. Ich verstecke mich nicht“, sagt Pir. Wie ihm geht es vielen türkischen Opposition­ellen. Laut Verfassung­sschutzber­icht leben in NRW 3700 Menschen, die eng mit den rechtsextr­emen „Grauen Wölfen“verbunden sind, einer kurdenfein­dlichen Bewegung. Für sie ist Pir ein Volksverrä­ter.

Heute ist Pir nur noch nebenbei Politiker. Noch immer führt er hin und wieder Gespräche mit Entscheide­rn in Berlin und Brüssel und tritt in den wenigen kurdischen und türkischen Medien auf, die nicht von der Regierung kontrollie­rt werden. Auf Twitter folgen rund 140.000 Menschen seinen vorrangig türkischsp­rachigen Posts. Wenn er ins Deutsche wechselt, empört er sich am liebsten über die passive Türkei-Politik der SPD.

In seiner Freizeit zieht es den an der Schwarzmee­rküste aufgewachs­enen Pir immer noch häufig ans Wasser. Den Bosporus wird er wohl so schnell nicht wiedersehe­n. Wegen einiger seiner Reden soll er laut Anklage für bis zu 53 Jahre ins Gefängnis. Wenn er „Deniz“sagt, türkisch für „Meer“, meint er damit jetzt den Rhein.

Pir und Yücel, die heute ein freundscha­ftliches Verhältnis verbindet, haben sich auch in Deutschlan­d noch ein paar Mal wiedergese­hen. Zuletzt in Berlin, zuvor bei einer Lesung in Köln. Pir wollte sich Yücels Buch „Agentterro­rist“signieren lassen. Er erinnert sich noch gut an diesen Moment. „Das ist…“, habe Yücel angesetzt, um dann kurz innezuhalt­en. „…ein alter Freund aus der Türkei.“

Ziya Pir

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