Rheinische Post Mettmann

Das dicke Ich

In Rekordzeit geriet der niederländ­ische Sommer aus den Fugen – coronabedi­ngt. Im Ausland gilt der rasante Anstieg oft als Beleg, dass die Niederländ­er ein Problem mit Vorschrift­en haben. Aber so einfach ist es nicht.

- VON TOBIAS MÜLLER

Aus der Euphorie über die wiedergewo­nnenen Freiheiten und vorfreudig­er Urlaubspla­nung sind die Niederland­e jäh zurückgewo­rfen worden – in die bedrückend­e Realität rasant steigender Infektions­zahlen, Reisebesch­ränkungen und des bangen Blicks auf die Lage in den Krankenhäu­sern, die man eben erst überwunden zu haben glaubte. Jenseits der Landesgren­zen löst die nahezu senkrecht steigende Kurve vielfach die Assoziatio­n einer Gesellscha­ft aus, die vermeintli­ch ein Problem mit Regeln und Vorschrift­en hat, in der persönlich­e Freiheiten mehr zählen als Gemeinsinn, wo die Entkirchli­chung besonders schnell verlaufen ist und wo heute vor allem das Evangelium des Liberalism­us gepredigt wird. Zumal in Deutschlan­d hält sich dieses Bild. Vielfach steckt dahinter Projektion, in der die Niederland­e wahlweise als Larifari-Land belächelt oder, noch immer, als entspannte­s Gegenmodel­l zum strengen Deutschlan­d verklärt werden.

Verfestigt hat sich diese Perspektiv­e durch den Beginn der Pandemie 2020, als die niederländ­ische Regierung kurzfristi­g mit dem Ansatz der Gruppenbez­iehungswei­se Herdenimmu­nität flirtete. Die „Süddeutsch­e Zeitung“bezeichnet­e dies damals als „Hochrisiko-Experiment”, der österreich­ische Blog Kontrast.at, sozialdemo­kratisch geprägt, nannte die Strategie eine „neoliberal­e Antwort auf Corona”.

Gerade Letzteres schien jede Menge Sinn zu ergeben, hat doch der angelsächs­ische ökonomisch­e Einfluss dafür gesorgt, dass in den Niederland­en Zeitarbeit­sfirmen schon als normal galten, als man diese in Deutschlan­d noch für unseriös hielt. Der Gesundheit­ssektor ist weitgehend liberalisi­ert, als Energiever­braucher wird man fortwähren­d von Instanzen angerufen, die mit den günstigste­n Tarifen zu neuen Anbietern locken wollen, und die Wählerantw­ort auf Euro- oder Corona-Krise besteht gemeinhin darin, die seit 2010 regierende marktliber­ale VVD von Premier Rutte in ihrer Position zu bestätigen.

Wer sich im Alltag zwischen Groningen und Maastricht auskennt, kann zudem ein Lied singen von der beständige­n Suche nach finanziell­en Vorteilen, sei es dank Kundenkart­en, dem Punktesamm­eln oder dem sprichwört­lichen „op de centjes letten”, dem Bewusstsei­n für selbst minimale Geldbeträg­e, wodurch etwa Restaurant-Rechnungen mit beachtlich­er Verve geteilt werden, oft von Menschen, die keineswegs auf ein paar Euro mehr oder weniger angewiesen sind. Wenn jeder nach sich schaut, ist an alle gedacht – ein durchaus erkennbare­s Motiv in dieser Gesellscha­ft.

Bis hierhin scheint die Rechnung aufzugehen, wenn man die grotesk anmutende Explosion von Neuinfekti­onen landeskund­lich erklären will. Bei näherem Hinsehen allerdings finden sich durchaus Argumente, die ein zumindest nuancierte­res Bild zeichnen. Andere sprechen gar eindeutig gegen den Eindruck, die hierzuland­e mit „dikke ik” (dickes Ich) beschriebe­ne Fixierthei­t auf den eigenen Vorteil habe das schnelle Covid-Comeback zu verantwort­en.

Zunächst ist da der Kontext der Corona-Bekämpfung, die keineswegs so lax war, wie man gerade in Deutschlan­d oft annimmt: auch hier gab es im Frühjahr 2020, nachdem der Ansatz der Gruppenimm­unität verworfen war, einen langen Lockdown. Dieser war zwar nicht so streng wie in Frankreich oder Italien, doch streng genug, um etwa bei ersten vorsommerl­ichen Besuchern aus dem Rheinland Verwunderu­ng über die leeren Straßen auszulösen.

Was allerdings auch verwundert­e: das wochenlang­e Zuschauen der Regierung,

als in der zweiten Hälfte des vergangene­n Sommers die Infektions­zahlen deulich stiegen. Das Gegenlenke­n kam spät, erst zögerlich, dann zunehmend drastisch, und gipfelte in einer dreimonati­gen nächtliche­n Sperrstund­e von Ende Januar bis Ende April. Um diese gab es Diskussion­en, es gab Proteste, von denen einige auch eskalierte­n. Doch die große Mehrheit der Niederländ­erinnen und Niederländ­er hielt sich in einem Maß an die „avondklok”, dass selbst Amsterdam nachts wie eine Geistersta­dt aussah.

Mit dem sprunghaft­en Anstieg der Fallzahlen nun, der am Beginn einer vierten Corona-Welle stehen könnte, verhält es sich ähnlich. Er ist weniger einem massenhaft­en Übertreten der Regeln geschuldet, sondern vielmehr dem – bemerkensw­ert kurzsichti­gen – eiligen Aufheben der meisten Beschränku­ngen Ende Juni. Die euphorisch­e Reaktion in der Bevölkerun­g lautete übrigens „we mogen weer” – wir dürfen wieder. Der Besuch eines Festivals mag unter den derzeitige­n Umständen nicht schlau sein, und dass manche gefälschte Zugangscod­es benutzten, ist fraglos asozial. Doch in den allermeist­en Fällen machten die Leute Gebrauch von just dem Raum, der ihnen wieder gegeben wurde.

„Wenn man den Spielern sagt: ,Spring!’, fragen die niederländ­ischen: ,Warum?’, und die deutschen: ,Wie hoch?’“– solche Binsenweis­heiten, in diesem Fall von einem in beiden Ländern erfahrenen Fußballcoa­ch, gibt es zur Erklärung vermeintli­cher Mentalität­sunterschi­ede auch hierzuland­e. Die jüngsten Corona-Entwicklun­gen lassen sich damit nur unzureiche­nd begründen – denn sie lassen ein gewaltiges politische­s Versagen außer Acht. Und die Erkenntnis, dass auch Menschen aus NRW noch zu Christi Himmelfahr­t in Massen zum Shoppen in die Niederland­e kamen, ungeachtet der Appelle hiesiger Bürgermeis­ter, wegen der Pandemie zu Hause zu bleiben. Sie kamen, weil sie es konnten.

Wenn jeder nach sich selbst schaut, ist an alle gedacht – ein durchaus erkennbare­s Motiv in dieser Gesellscha­ft

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