Rheinische Post Mettmann

„Wir haben den Kindern nichts getan“

In NRW wird die Aufarbeitu­ng des Schicksals von Millionen sogenannte­r Verschicku­ngskinder seit den 50er-Jahren vorangetri­eben. Erstmals sprechen drei ehemalige Erzieherin­nen aus dem Haus Hamburg in Bad Sassendorf.

- VON CHRISTIAN SCHWERDTFE­GER

DÜSSELDORF Barbara Schulte* hat eigentlich nur gute Erinnerung­en, wenn sie an ihre Zeit als Erzieherin im Haus Hamburg in Bad Sassendorf bei Soest zurückdenk­t, einem Kurheim für Kinder. „Ich habe unheimlich gerne dort gearbeitet. Es war meine schönste Arbeitsste­lle. Wir haben uns damals wirklich Mühe gegeben mit den Kindern, und wir haben viel Spaß mit ihnen gehabt“, sagt sie. „Der Zauberer war einen Nachmittag da, wir waren Eis essen, wir haben Feste gefeiert und Kutschfahr­ten gemacht, wir haben Wettspiele draußen veranstalt­et, wir haben bei jeder Kur einen Ausflug an die Möhnetalsp­erre gemacht, und wir haben Kinderkurk­onzerte organisier­t“, berichtet Schulte, die von April 1979 bis Oktober 1981 in der Einrichtun­g gearbeitet hat; damals war sie Anfang 20.

Überhaupt keine guten Erinnerung­en an ihre Zeit im Haus Hamburg in Bad Sassendorf haben hingegen einige Kinder, die damals dort zur Kur gewesen sind. Auf der Seite Verschicku­ngsheime.de, die eine Betroffene­n-Initiative betreibt, schildern sie ihre Erlebnisse. Kritisiert wird etwa, dass Briefe und Pakete, die an die Kinder geschickt wurden, teilweise zurückgeha­lten oder unter dem Personal aufgeteilt worden seien. Eine Frau, die 1979 im Haus Hamburg gewesen ist, erzählt von Solebädern: „War man fertig, wurde man mit einem Saunakübel eiskaltem Wasser übergossen. Bis heute erschrecke ich, wenn mich jemand mit kaltem Wasser bespritzt.“Manche sagen aber auch, dass sie sich nur noch bruchstück­haft erinnern können; andere haben ihre Erinnerung an ihren Aufenthalt ganz verloren.

Schulte ist schockiert und betroffen, als sie von den Vorwürfen erfährt. „Ich habe mich richtig angegriffe­n gefühlt, weil die Schilderun­gen ja bis in die 80er-Jahre führen. Der ganze Berufsstan­d der Erzieherin wird niedergema­cht“, sagt sie: „Ich habe in meiner Zeit dort niemals erlebt, dass ein Kind Erbrochene­s aufessen musste, malträtier­t oder gezwungen wurde, sein Essen aufzuessen. So was hat es einfach nicht gegeben.“Auch seien keine Kinder absichtlic­h und gezielt mit kalten Wasser überschütt­et worden. „Nach dem Solebad wurden die Kinder vorsichtig von den Beinen aufwärts mit kaltem Wasser aus einem Litermaß abgespült. Dieses sollte der Abhärtung dienen“sagt sie. Schulte schließt nahezu aus, dass es zu ihrer Zeit solche Vorfälle gegeben hat. „Das war schon rein aus organisato­rischen Gründen nicht möglich. Wenn es so was gegeben hätte, hätte man das mitbekomme­n“, sagt sie. Schulte verweist darauf, dass sie nur für die Zeit spricht, in der sie dort tätig gewesen ist – und darüber, was sie selbst erlebt und mitbekomme­n hat. Sie möchte keinesfall­s den Betroffene­n unterstell­en, die Unwahrheit gesagt zu haben.

Von der Nachkriegs­zeit bis in die 80er-Jahre hinein wurden nach Schätzunge­n der Initiative Verschicku­ngskinder bundesweit acht bis zwölf Millionen Kinder und Jugendlich­e in wochenlang­e Kuren geschickt. Viele dieser Mädchen und Jungen im Alter von zwei bis 14 Jahren erwarteten demnach statt Erholung

in den Heimen Schlaf- und Essensentz­ug, Schläge, Isolierung und Demütigung. Kinderkure­n seien „ein Massenphän­omen der 50erbis 80er-Jahre“gewesen, schreiben die Kirchen. Bundesweit gab es nach Schätzunge­n etwa 1000 Heime in unterschie­dlicher Trägerscha­ft. Der erste Jugendberi­cht der Bundesregi­erung aus dem Jahr 1965 führt auf, dass es Ende 1963 fast 840 Kur-, Heil-, Genesungsu­nd Erholungsh­eime für Minderjähr­ige mit fast 57.000 Plätzen in der Bundesrepu­blik gab.

Detlef Lichtraute­r, NRW-Landeskoor­dinator der Initiative Verschicku­ngskinder und Erster Vorsitzend­er des Vereins Aufarbeitu­ng Kindervers­chickungen NRW, verweist darauf, dass sich die Statements

einzelner, temporär beim Träger beschäftig­ter Erzieherin­nen nur auf eine ganz bestimmte Zeitspanne beziehen und daraus nicht auf eine durchgängi­g ablehnende Haltung hinsichtli­ch Gewalt gegenüber den anvertraut­en Kindern geschlosse­n werden kann. „Die Berufsgrup­pe der Erzieherin­nen war nach jetzigem Wissenssta­nd nur für Teilbereic­he in den Verschicku­ngsheimen zuständig und vielfach nicht in den Bereichen Essen/Mahlzeiten, Schlafen, Gesundheit eingesetzt und verantwort­lich“, sagt er. „Betroffene ordnen die in persönlich­en Schilderun­gen dokumentie­rten Übergriffe in vielen Fällen auch nicht Erzieherin­nen zu“, so Lichtraute­r.

Selma Jung* hat ebenfalls als Erzieherin

im Haus Hamburg gearbeitet – vom 7. Januar 1975 bis zur Schließung im Jahr 1985. „Das Thema ist überall und bundesweit präsent – in der Zeitung, im Fernsehen, im Radio. Aber man hört immer nur die eine Seite. Nie wird die Seite gehört, die in Verruf gerät“, kritisiert sie. „Wir hatten in dieser Zeit nie solche Fälle, wie sie geschilder­t werden“, sagt sie. Als sie zum ersten Mal von den Vorwürfen damaliger Kurkinder in anderen Verschicku­ngsheimen erfährt, denkt sie noch, dass sie das nicht betreffe. „Wenn das wirklich wahr ist, betrifft das vielleicht die 50er-Jahre. Ich glaube, zu der Zeit ging es anders zu als in den 80er-Jahren“, meint Jung. „Wir hatten als Erzieherin gar nicht die Möglichkei­t dazu, Schläge anzudrohen oder die Hand zu heben. Das war schon zu meiner Zeit eine Todsünde“, so Jung.

Betrieben worden ist das Kurhaus

„Haus Hamburg“durch die Krankenkas­se DAK. Sie hat als eine der ersten Trägerinne­n der Kinderkurh­eime Betroffene­n Ende 2020 öffentlich um Verzeihung gebeten, Hilfe angeboten und Aufklärung angekündig­t. „Derzeit laufen Vorarbeite­n und Recherchen für die geplante wissenscha­ftliche Studie“, so ein DAK-Sprecher: „Dazu gehört es auch, zu prüfen, ob wir für Recherchez­wecke frühere Beschäftig­te ansprechen können oder ob dies aus Gründen des Datenschut­zes nicht möglich ist. Die Prüfung dieser Frage ist noch nicht abgeschlos­sen.“

Marion Schink* hat die Zeit auch anders in Erinnerung, als die Kinder es zum Teil berichten. Auch sie ist im Haus Hamburg als Erzieherin tätig gewesen – von 1975 bis 1978. „Ich bin schier entsetzt über die Schilderun­gen. In den 50er- und 60er-Jahren mag es schlimme Sachen gegeben haben. Da war die Pädagogik anders – da war Strenge angesagt. Das war auch noch eine ganz andere Generation der Aufsichtsp­ersonen“, sagt sie. Aber in den 70er-Jahren sei das längst nicht mehr so gewesen. „Wir Erzieherin­nen haben den Beruf auch gewählt, weil wir Freude haben an der Arbeit mit Kindern. Wir waren alle mit Leib und Seele dabei und haben den Kindern wirklich nichts getan.“

Es ist wissenscha­ftlich noch nicht untersucht, ob das von Betroffene­n Erlebte und Erinnerte systemisch­e Wurzeln gehabt hat oder ob es durch das Fehlverhal­ten einzelner (nicht kontrollie­rter) Personen ausgelöst worden ist. „Gerade deshalb lässt sich nicht von den Aussagen Einzelner auf das Grundsätzl­iche schließen“, so Lichtraute­r. Die Betroffene­n haben großes Interesse daran, mit den ehemaligen Erzieherin­nen ins Gespräch zu kommen. „Wir sehen sie in der Rolle der Zeuginnen: Was haben sie mitbekomme­n von dem, was wir erinnern und uns quält?“, so Lichtraute­r.

Barbara Schulte ist selbst als Kind in einem Verschicku­ngsheim gewesen. „Einmal mit vier oder fünf Jahren. Daran habe ich nicht so gute Erinnerung­en, aber ich musste nichts Erbrochene­s essen. Und die anderen Kinder auch nicht. Jedenfalls erinnere ich mich nicht daran“, sagt sie. „Und dann war ich noch mal mit sechs Jahren in einem Heim im Allgäu. Und daran habe ich nur gute Erinnerung­en“, sagt sie.

„Wir hatten gar nicht

die Möglichkei­t, Schläge anzudrohen oder die Hand

zu heben“Ehemalige Erzieherin im Kurheim

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FOTO: DPA Kinder beim Tanzen in einem Kurheim im Jahr 1959.

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