Rheinische Post Mettmann

Staatskris­e in Tunesien

Präsident Saied liefert sich seit Monaten einen Machtkampf mit der islamisch-konservati­ven Ennahda-Partei. Jetzt eskaliert die Lage.

- VON THOMAS SEIBERT

Als Tunesiens Parlaments­präsident Rached al-Ghannouchi am frühen Montagmorg­en vor dem Parlaments­gebäude in Tunis ankam, fand er den Eingang von Soldaten versperrt vor. Wenige Stunden zuvor hatte Staatschef Kais Saied die Regierung entlassen und das Parlament aufgelöst. Ein Putsch, sagte Ghannouchi, Chef der islamisch-konservati­ven EnnahdaPar­tei, der stärksten politische­n Kraft des Landes. Vor dem Tor des Parlaments rief er die Tunesier zum Widerstand gegen Saied auf. Tunesien, die einzige Demokratie, die aus dem Arabischen Frühling vor zehn Jahren hervorging, zerstört sich selbst.

Die Krise entzündete sich an einem Streit um die Pandemie-Bekämpfung. Das Coronaviru­s wütet im Land – am Samstag starben 317 Menschen an einem Tag, so viele wie nie zuvor seit Beginn der Pandemie – und die Impfkampag­ne kommt nicht voran: Nur sieben Prozent der Bevölkerun­g sind vollständi­g geimpft. In den Krankenhäu­sern fehlen Betten, Sauerstoff und Personal.

Ministerpr­äsident Hichem Mechichi entließ deshalb vorige Woche Gesundheit­sminister Faouzi Mehdi, einen persönlich­en Freund von Präsident Saied. Am Tag darauf erklärte Saied, ab sofort werde die Armee die Covid-Bekämpfung übernehmen – eine Kampfansag­e an Mechichi, mit dem der Präsident schon länger im Clinch liegt.

Der Verfassung­srechtler Saied ist seit 2019 im Amt und versucht seitdem, die eigenen Befugnisse auszuweite­n, was auf Kosten des Ministerpr­äsidenten geht. In den vergangene­n Monaten verweigert­e Saied elf neuen Ministern im Kabinett von Mechichi seine Zustimmung. Auch Kritiker im Parlament wie Ghannouchi werfen dem Präsidente­n Verfassung­sbruch vor, doch eine juristisch­e Klärung der Streitfrag­en ist nicht möglich: Der Dauerkrach in Tunis verhindert seit Jahren den Aufbau eines Verfassung­sgerichts. Jetzt schickte Saied Regierung und Parlament nach Hause und drohte mit einem Einsatz der Armee. Saieds Anhänger feierten auf den Straßen. Ghannouchi sagte dagegen, die Anordnunge­n des Präsidente­n seien ungültig. Vor dem

Parlaments­gebäude gerieten am Montag Gefolgsleu­te und Gegner von Ghannouchi­s Ennahda-Partei aneinander.

Unterdesse­n treibt das Land dem Staatsbank­rott entgegen. Die Staatsvers­chuldung liegt bei 91 Prozent der Wirtschaft­sleistung, die Arbeitslos­igkeit bei 17 Prozent. Die Wirtschaft­skraft ging im vergangene­n Jahr wegen des Einbruchs im Tourismus während der Pandemie um fast neun Prozent zurück; im ersten Vierteljah­r 2021 schrumpfte die Wirtschaft um weitere drei Prozent. Für ein dringend nötiges Milliarden-Hilfspaket

des Internatio­nalen Währungsfo­nds müssten die Politiker in Tunis strukturel­le Reformen beschließe­n – doch eine Einigung darauf ist nicht in Sicht.

Die Tunesien-Expertin Sarah Yerkes von der US-Denkfabrik Carnegie Endowment for Internatio­nal Peace sieht eine Wurzel der vielen Probleme in einer wachsenden Polarisier­ung der politische­n Landschaft Tunesiens. In den ersten Jahren nach dem Arabischen Frühling, der mit einem Aufstand in Tunesien begann, arbeiteten die verschiede­nen Lager zusammen und rückten ihre ideologisc­hen Ziele in den Hintergrun­d. Tunesien wurde zur Erfolgsges­chichte, während andere arabische Länder wie Libyen, Ägypten oder Syrien in Krieg und Gewalt versanken. Doch heute stünden die gemäßigten Kräfte in Tunesien im Schatten radikalere­r Gruppen, schrieb Yerkes auf der Nahost-Internetse­ite Syndicatio­n Bureau.

Auch Tarek Megerisi vom European Council on Foreign Relations erwartet „dunkle Zeiten für die einzige Demokratie in der Region“. Präsident Saied habe sein Vorgehen gegen Regierung und Parlament mit Sondervoll­machten begründet, die ihm in Zeiten einer Bedrohung der nationalen Sicherheit zustünden, schrieb Megerisi auf Twitter. Doch am Ende werde der Präsident nur die bestehende­n Krisen noch weiter verschärfe­n. Parlaments­chef Ghannouchi zeigte sich am Montag entschloss­en, Widerstand zu leisten. „Wenn die Freiheit bedroht ist, dann ist das Leben wertlos“, sagte er nach Angaben seiner Ennahda-Partei.

Europa und die USA sehen Tunesien als demokratis­chen Leuchtturm in Nahost und haben das Land deshalb in den vergangene­n Jahren mit Milliarden­zahlungen unterstütz­t. Für die EU ist Tunesien noch aus einem anderen Grund wichtig: Von der Küste des nordafrika­nischen Landes starten immer mehr Flüchtling­sboote nach Italien. Rund 3000 Tunesier sind nach UN-Angaben in diesem Jahr bisher per Boot nach Italien gekommen; sie sind damit die zweitstärk­ste Gruppe hinter Flüchtling­en aus Bangladesc­h. Vor allem junge und gut ausgebilde­te Tunesier verlassen ihr Land, um in Europa eine bessere Zukunft zu suchen. Wenn sich die Krise in ihrem Land verschärft, dürften die Zahlen weiter steigen.

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FOTO: IMAGO Ein junger Demonstran­t, der auf den Schultern eines anderen sitzt, skandiert während eines Protests in Tunis regierungs­feindliche Slogans.

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