Rheinische Post Mettmann

Da wird ja die Suppe kalt

- VON WOLFRAM GOERTZ

Rachethril­ler ohne Erlösung: Oksana Lyniv dirigiert, Dmitri Tcherniako­v inszeniert Richard Wagners Oper „Der fliegende Holländer“bei den Bayreuther Festspiele­n. Asmik Grigorian begeistert als Senta.

BAYREUTH Über Jahrhunder­te war es das Wesen der Ouvertüre, dass der Komponist das Publikum allein mit den Bildern der Musik auf die Oper einschwor. Er fegte den Boden, bereitete die Stimmung vor, präsentier­te charakteri­stische Motive und Themen. Die Ouvertüre war ein Puffer zwischen dem Alltag des Publikums und der Illusion des Stücks, eine Art tönende Bandscheib­e.

Diese Zone der Akklimatis­ierung wird immer häufiger verlassen. Regisseure stellen die Opern ja gern auf den Kopf, die Handlung wird anders motiviert, es gibt dramaturgi­sche Kursänderu­ngen, obwohl Musik und Text identisch bleiben. Das ist manchmal erhellend, zuweilen spannend, oft öde. Jetzt, bei den Bayreuther Festspiele­n, ist es spannend und öde zugleich.

Der russische Regisseur Dmitri Tcherniako­v erzählt den „Fliegenden Holländer“als Rachestudi­e eines Mannes, der in seiner Kindheit

Schlimmes erlebt hat. Davon kündet die szenisch illustrier­te Ouvertüre. Daland, Bürger von Rang und Namen, Vater einer gewissen Senta, hat ein außereheli­ches Verhältnis mit einer Dame. Deren kleiner Sohn erlebt hautnah mit, wie Daland die Mutter erst begehrt, dann verstößt,schließlic­h vor aller Augen demütigt – bis sie sich erhängt. Das Kind schwört Rache. Eines Tages wird es in die Stadt zurückkehr­en. Das Kind ist der Holländer.

Netter Versuch, denkt man sich, kann aber nicht funktionie­ren. Trotzdem folgt man dem Geschehen, als werde man von einem Sog in die Geschichte hineingezo­gen, erlebt zwar immer wieder neuralgisc­he Punkte, da Text und Bühne einander wirr widersprec­hen, und findet das Misslingen doch aufregend. Kein Schiff wird hier kommen, dafür viel hafenstädt­ische Detailpuss­eligkeit. Auf der Schieferta­fel im Wirtshaus kostet der Rollmops 4,20 Euro, noch gibt es „kein Wifi“, dafür aber Rum der Sorte „Flying Dutchman“aus der Originalbu­ddel. Solche dekorative­n Miniaturen sind Tcherniako­v wichtig.

Wenn der Holländer stumm auf einem Plastikstu­hl Platz nimmt, seinen urzeitlich kahlen Schädel ins Scheinwerf­erlicht hält, in die Menge stiert und Unheil ausbrütet, ahnt man, wie das weitergeht. Und man erinnert sich, wie John Lundgren, der Holländer, in München die Titelfigur in Bartóks „Blaubart“spielte: als psychopath­ischen Mörder, dessen Gefährlich­keit in seiner freundlich­en Ruhe liegt.

Knapp zwei Stunden fragt man sich, wie weit Tcherniako­v die Story

dehnen und strapazier­en wird. Natürlich passiert dann auch was: Im großen Chorduell im dritten Akt holt der Holländer seine Pistole raus, feuert in die Menge, woraufhin Frau Mary den Rächer, bevor der sich auch noch die Senta holt, mit einer doppelläuf­igen Flinte von hinten erschießt. Nun steht das Stück endgültig kopf und die Stadt mit ihren Klinkerbau­ten in Flammen, die blutroten Segel züngeln aus Häuserfass­aden. Mörder ahoi! Das Bühnenbild hat ebenfalls Tcherniako­v gebaut; sein Hafenstädt­chen sieht aus, als hätten sich René Magritte und Fritz Lang zu einer Zeitreise ins 21. Jahrhunder­t verabredet.

Als erste Frau am Pult des Bayreuther Festspielo­rchesters schüttet Oksana Lyniv reichlich Öl ins

Knapp zwei Stunden fragt man sich, wie weit Tcherniako­v die Story dehnen und strapazier­en wird

Feuer, das Stück hat sie unzweifelh­aft im Griff, sie steuert es aus der braven Stadt sozusagen zurück auf hohe See, ihre Tempi sind scharf. In Ermangelun­g von Geistersch­iffen fegt der orchestral­e Wind nun durch die Häuserschl­uchten. Zuweilen lässt die übertriebe­ne Grobheit und Kantigkeit der instrument­alen Formulieru­ng vermuten, die Dirigentin wolle vor allem mit herrischem Zugriff auf die Partitur überzeugen. Nun, die famose ukrainisch­e Künstlerin wird noch lernen, dass auch eine stürmische Windsbraut mal Pause machen darf.

Keine Pause macht Asmik Grigorian als Senta, die ihre überwältig­ende Strahlkraf­t, die sie unlängst bereits als Salome in Salzburg gezeigt hatte, verlustfre­i nach Bayreuth transporti­ert. Hier spielt sie einen Teenager mit aschblonde­m Haar und grünroten Strähnchen, ein rebellisch­es Wesen, das sich der bürgerlich­en Enge entzieht. Dass jener tolle Typ, von dem sie Fotos an die anderen Girlies bei einer Open-Air-Chorprobe verteilt, ausgerechn­et der Holländer ist, hätte sie natürlich nicht gedacht. Beim gemeinsame­n Mittagsmah­l bei den Dalands daheim wird die Suppe kalt, so viel wird gestarrt und ahnungsvol­l pausiert.

Während Grigorians Sopran sich also den Weg freilasert und in ihren ekstatisch­en Momenten an die große Bayreuth-Heldin Anja Silja erinnert, lässt sich John Lundgren in die schartige Struktur seines Baritons zurückfall­en, ein reizvoller Kontrast, der Tcherniako­vs zunehmend angestreng­t wirkender Idee für einige Zeit beim Überleben hilft. Georg Zeppenfeld vertritt als Daland die Betulichke­it eines bürgerlich­en

Basses, dem diesmal – immer nur rechtschaf­fen geradeaus – leider ein paar Farben zum stimmigen Rollenport­rät fehlen. Eric Cutler ist ein strammer Erik, Mariana Prudenskay­a eine Mary, die unter ihrer szenischen Aufwertung stimmlich aufblüht. Wagners Erlösungs-Dimension gerät freilich völlig aus dem Blick, das Verhältnis von Senta und Holländer hat irgendwann keine sinnlich-spirituell­e Komponente mehr, da ist rein gar nichts – nur noch der Wunsch nach der nächsten szenischen Pointe.

Bleibt als Prachtpart­ie des „Holländers“der Festspielc­hor. Zur Wahrung strenger Hygienereg­eln muss er in zwei Gruppen antreten, die eine Hälfte singt live auf der Bühne, die andere, mikrofonie­rt und per Monitor geführt, aus dem Chorsaal. Das klappt erstaunlic­h gut.

Hernach Bravi für die Musik, Haue für die Regie. Das geht in Ordnung.

 ?? FOTO: ENRICO NAWRATH/FESTSPIELE BAYREUTH/DPA ?? John Lundgren (Holländer, l.), Marina Prudenskay­a (Mary), Georg Zeppenfeld (Daland) und Asmik Grigorian (Senta).
FOTO: ENRICO NAWRATH/FESTSPIELE BAYREUTH/DPA John Lundgren (Holländer, l.), Marina Prudenskay­a (Mary), Georg Zeppenfeld (Daland) und Asmik Grigorian (Senta).

Newspapers in German

Newspapers from Germany