Da wird ja die Suppe kalt
Rachethriller ohne Erlösung: Oksana Lyniv dirigiert, Dmitri Tcherniakov inszeniert Richard Wagners Oper „Der fliegende Holländer“bei den Bayreuther Festspielen. Asmik Grigorian begeistert als Senta.
BAYREUTH Über Jahrhunderte war es das Wesen der Ouvertüre, dass der Komponist das Publikum allein mit den Bildern der Musik auf die Oper einschwor. Er fegte den Boden, bereitete die Stimmung vor, präsentierte charakteristische Motive und Themen. Die Ouvertüre war ein Puffer zwischen dem Alltag des Publikums und der Illusion des Stücks, eine Art tönende Bandscheibe.
Diese Zone der Akklimatisierung wird immer häufiger verlassen. Regisseure stellen die Opern ja gern auf den Kopf, die Handlung wird anders motiviert, es gibt dramaturgische Kursänderungen, obwohl Musik und Text identisch bleiben. Das ist manchmal erhellend, zuweilen spannend, oft öde. Jetzt, bei den Bayreuther Festspielen, ist es spannend und öde zugleich.
Der russische Regisseur Dmitri Tcherniakov erzählt den „Fliegenden Holländer“als Rachestudie eines Mannes, der in seiner Kindheit
Schlimmes erlebt hat. Davon kündet die szenisch illustrierte Ouvertüre. Daland, Bürger von Rang und Namen, Vater einer gewissen Senta, hat ein außereheliches Verhältnis mit einer Dame. Deren kleiner Sohn erlebt hautnah mit, wie Daland die Mutter erst begehrt, dann verstößt,schließlich vor aller Augen demütigt – bis sie sich erhängt. Das Kind schwört Rache. Eines Tages wird es in die Stadt zurückkehren. Das Kind ist der Holländer.
Netter Versuch, denkt man sich, kann aber nicht funktionieren. Trotzdem folgt man dem Geschehen, als werde man von einem Sog in die Geschichte hineingezogen, erlebt zwar immer wieder neuralgische Punkte, da Text und Bühne einander wirr widersprechen, und findet das Misslingen doch aufregend. Kein Schiff wird hier kommen, dafür viel hafenstädtische Detailpusseligkeit. Auf der Schiefertafel im Wirtshaus kostet der Rollmops 4,20 Euro, noch gibt es „kein Wifi“, dafür aber Rum der Sorte „Flying Dutchman“aus der Originalbuddel. Solche dekorativen Miniaturen sind Tcherniakov wichtig.
Wenn der Holländer stumm auf einem Plastikstuhl Platz nimmt, seinen urzeitlich kahlen Schädel ins Scheinwerferlicht hält, in die Menge stiert und Unheil ausbrütet, ahnt man, wie das weitergeht. Und man erinnert sich, wie John Lundgren, der Holländer, in München die Titelfigur in Bartóks „Blaubart“spielte: als psychopathischen Mörder, dessen Gefährlichkeit in seiner freundlichen Ruhe liegt.
Knapp zwei Stunden fragt man sich, wie weit Tcherniakov die Story
dehnen und strapazieren wird. Natürlich passiert dann auch was: Im großen Chorduell im dritten Akt holt der Holländer seine Pistole raus, feuert in die Menge, woraufhin Frau Mary den Rächer, bevor der sich auch noch die Senta holt, mit einer doppelläufigen Flinte von hinten erschießt. Nun steht das Stück endgültig kopf und die Stadt mit ihren Klinkerbauten in Flammen, die blutroten Segel züngeln aus Häuserfassaden. Mörder ahoi! Das Bühnenbild hat ebenfalls Tcherniakov gebaut; sein Hafenstädtchen sieht aus, als hätten sich René Magritte und Fritz Lang zu einer Zeitreise ins 21. Jahrhundert verabredet.
Als erste Frau am Pult des Bayreuther Festspielorchesters schüttet Oksana Lyniv reichlich Öl ins
Knapp zwei Stunden fragt man sich, wie weit Tcherniakov die Story dehnen und strapazieren wird
Feuer, das Stück hat sie unzweifelhaft im Griff, sie steuert es aus der braven Stadt sozusagen zurück auf hohe See, ihre Tempi sind scharf. In Ermangelung von Geisterschiffen fegt der orchestrale Wind nun durch die Häuserschluchten. Zuweilen lässt die übertriebene Grobheit und Kantigkeit der instrumentalen Formulierung vermuten, die Dirigentin wolle vor allem mit herrischem Zugriff auf die Partitur überzeugen. Nun, die famose ukrainische Künstlerin wird noch lernen, dass auch eine stürmische Windsbraut mal Pause machen darf.
Keine Pause macht Asmik Grigorian als Senta, die ihre überwältigende Strahlkraft, die sie unlängst bereits als Salome in Salzburg gezeigt hatte, verlustfrei nach Bayreuth transportiert. Hier spielt sie einen Teenager mit aschblondem Haar und grünroten Strähnchen, ein rebellisches Wesen, das sich der bürgerlichen Enge entzieht. Dass jener tolle Typ, von dem sie Fotos an die anderen Girlies bei einer Open-Air-Chorprobe verteilt, ausgerechnet der Holländer ist, hätte sie natürlich nicht gedacht. Beim gemeinsamen Mittagsmahl bei den Dalands daheim wird die Suppe kalt, so viel wird gestarrt und ahnungsvoll pausiert.
Während Grigorians Sopran sich also den Weg freilasert und in ihren ekstatischen Momenten an die große Bayreuth-Heldin Anja Silja erinnert, lässt sich John Lundgren in die schartige Struktur seines Baritons zurückfallen, ein reizvoller Kontrast, der Tcherniakovs zunehmend angestrengt wirkender Idee für einige Zeit beim Überleben hilft. Georg Zeppenfeld vertritt als Daland die Betulichkeit eines bürgerlichen
Basses, dem diesmal – immer nur rechtschaffen geradeaus – leider ein paar Farben zum stimmigen Rollenporträt fehlen. Eric Cutler ist ein strammer Erik, Mariana Prudenskaya eine Mary, die unter ihrer szenischen Aufwertung stimmlich aufblüht. Wagners Erlösungs-Dimension gerät freilich völlig aus dem Blick, das Verhältnis von Senta und Holländer hat irgendwann keine sinnlich-spirituelle Komponente mehr, da ist rein gar nichts – nur noch der Wunsch nach der nächsten szenischen Pointe.
Bleibt als Prachtpartie des „Holländers“der Festspielchor. Zur Wahrung strenger Hygieneregeln muss er in zwei Gruppen antreten, die eine Hälfte singt live auf der Bühne, die andere, mikrofoniert und per Monitor geführt, aus dem Chorsaal. Das klappt erstaunlich gut.
Hernach Bravi für die Musik, Haue für die Regie. Das geht in Ordnung.