Der Blick ins Knie
Vor 100 Jahren führte der Schweizer Arzt Eugen Bircher erstmals Gelenkspiegelungen bei Patienten durch. Heutzutage ist eine Arthroskopie des Knies eine Sache von 20 Minuten. Wann wird sie gemacht, und wie läuft sie ab? Ein Fallbeispiel.
Ein nettes Jubiläum gibt es zu feiern, es hat mit der Schweiz, mit der menschlichen Gesundheit und mit Herrn Bircher zu tun.
Bevor nun jeder an den Erfinder des gleichnamigen Müslis denkt, welches unser Frühstück und unsere Verdauung animiert, biegen wir rechtzeitig ab. Die Rede ist nämlich nicht von Maximilian Oskar Bircher-Benner, dem berühmten Arzt und Ernährungsreformer, sondern von Eugen Bircher, der ebenfalls Arzt war, aber die Schweizer Bürgerwehren gründete und später politisch ins Abseits geriet.
Als Arzt interessierte sich Eugen Bircher weniger für den Darm als für chirurgische Gefechtsfelder. Schon im Ersten Weltkrieg hatte er sich große Erfahrung in der Versorgung aller möglichen Wunden und Traumata erworben, später machte er es sich zu seiner Passion, Einblick in bis dahin unerforschte Regionen des Körpers zu gewinnen. Bircher wurde ein Pionier der Gelenkspiegelung, der Arthroskopie, über einen minimalinvasiven Zugang; vor allem interessierten ihn Meniskusschäden. 1921 – vor genau 100 Jahren also – publizierte er als erster Arzt eine Reihe von 19 klinischen Fällen, die er im Kantonsspital Aarau behandelt hatte. Anders als seine Kollegen, der Däne Severin Nordentoft und der Japaner Tenji Takagi, hatte Bircher nämlich nicht mit Toten, sondern mit Lebenden zu tun, was für die Medizingeschichte ein Meilenstein war.
Wenn heutzutage ein Arzt den Terminus „Wir gucken rein“verwendet, dann denkt er immer an Bircher, ob er will oder nicht. Das weiß auch Hubert Bodden. Er ist leitender Arzt in der Unfallchirurgie am Krankenhaus Neuwerk in Mönchengladbach. Seit vielen Jahren gilt er als Kapazität; Gelenkchirurgie ist seine Domäne, mit Knien hat er besonders viel Erfahrung. Davon profitierte nun schnell und nachdrücklich seine Patientin Claudia Bender. Wenn man so will, war die 56-jährige Verwaltungsangestellte eine von Birchers zeitlich entfernten Jubiläumspatientinnen.
Zu Bodden kam Frau Bender auf Um- und leider auch Abwegen. Im Wald war sie von einem Holzstapel abgesprungen und mit dem rechten Bein ungünstig auf dem Boden aufgekommen, ein spontaner Schmerz im Knie verhieß nichts Gutes. Ihr erster Gedanke nach dem fatalen Ausfallschritt: „Irgendwas ist da kaputtgegangen.“
Oder nicht? Der Volksmund kennt den Begriff, man habe sich „vertreten“, und oft renkt sich alles von selbst wieder ein; Bänder, Sehnen, Muskeln sind ja ziemlich belastbar und halten einiges aus. Doch bei
Claudia Bender wurde es über die Tage nicht besser, sondern schlimmer; die Schmerzen steigerten sich. Ihr Orthopäde wollte es genau wissen und ordnete eine Kernspin-Tomografie des Knies an. Sie gab keinerlei Anhalt für einen Schaden. „Da ist nichts“, sagte der Radiologe.
Vielleicht war es gar nicht das Knie, sondern die Hüfte? Oder sonst etwas im Körper, das Richtung Knie ausstrahlte? Die Ärzte entwarfen einen diagnostischen Generalplan, doch es war nichts, aber auch gar nichts zu finden. Es musste das Knie sein, zumal es mittlerweile stark angeschwollen war. In der Praxis wurde die Beule punktiert, also mit einer Nadel angestochen, und Flüssigkeit wurde entfernt. Für ein paar Tage war alles gut, dann gingen die Schmerzen von vorne los.
„Da muss wirklich etwas sein“, sagte Claudia Bender. Auch ihre Physiotherapeutin war dieser Meinung. Ein weiteres MRT vom Knie
Eine Gelenkspiegelung läuft heutzutage fast
immer ambulant
wurde angefertigt. Abermals war nach Angaben des Radiologen nichts zu sehen.
Der Orthopäde vertraute den Schilderungen seiner Patientin und entschied: „Da müssen wir jetzt reinschauen.“
Nun kommt Eugen Bircher ins Spiel – und mit ihm die Kunst, den Körper durch kleinste Öffnungen zu inspizieren. Minimalinvasiv ist ein Zauberwort der modernen Heilkunde. Was früher ein großer Schnitt war, gelingt heute durch winzige, manchmal sogar natürliche Zugänge und Öffnungen. Die Herzkatheter-Untersuchung oder die diversen Darm- und Magenspiegelungen sind solche Manöver. Hubert Bodden hat seinem Vorgänger Bircher allerdings die moderne Technik voraus: Heutzutage kann man sozusagen in einem Arbeitsschritt das Gelenk spiegeln und einen Schaden, sofern das technisch möglich und auch sinnvoll ist, sofort beheben.
Bodden kennt das Problem, dass das klinische Bild eines Patienten dem radiologischen widerspricht. Tausende von Kniegelenken hat er schon gespiegelt, und manchmal passiert es halt, dass das MRT unauffällig ist, die ins Gelenk vorgeschobene Kamera aber einen Defekt erkennen lässt. Bei Claudia Bender sah er es sofort: Vorderhornriss des Außenmeniskus rechts.
Nun müssen wir uns schlaumachen. „Der Außenmeniskus“, so sagt das Lehrbuch, „besteht aus dem Vorderhorn, dem Mittelteil und dem Hinterhorn. Das Vorderhorn ist mit der Vorder- und Oberseite des Schienbeins verbunden, das Hinterhorn mit seiner Rückseite.“Bei Bender war ein plötzliches Trauma die Ursache für den Schaden. Die meisten Meniskusrisse sind jedoch degenerativ bedingt. Bevorzugt treten sie bei älteren Patienten auf, bei denen der Verschleiß von Meniskusgewebe ein natürlicher, schleichender Prozess ist. Wenn ein entsprechender Vorschaden besteht, kann allerdings auch ein kleines Trauma oder eine Alltagsbewegung einen Meniskusriss auslösen.
Zurück zu Benders Knie und Boddens Einsichten. Nähen ließ sich der Defekt nicht, wohl aber konnte Bodden das gerissene Gewebe entfernen; dadurch dürfte die Patientin schnell beschwerdefrei werden, prognostizierte er – zumal es keinen Flüssigkeitserguss mehr geben sollte.
Genauso kam es. Knapp 20 Minuten benötigte Bodden für Inspektion (Reinschauen) und Resektion (Entfernen). Danach wurde die Patientin nach Hause entlassen. Am zehnten Tag nach der OP (auf Wunsch der Patientin in Vollnarkose) kam Frau Bender zur Entfernung der Hautfäden, außerdem muss sie bis zum Erreichen der vollen Belastung Medikamente zur Thrombosevorbeugung nehmen. Außerdem könnte, so sagt Bodden, bei Bedarf Physiotherapie hilfreich sein.
Was lernen wir aus dem Fall? Erstens: Schmerzen unklarer Herkunft muss immer nachgegangen werden. Zweitens: Physiotherapeutinnen haben sehr oft einen richtigen Riecher. Drittens: MRT-Bilder sind in der Regel ein unentbehrliches Mittel zur Diagnosesicherung. Viertens: Gut, dass es die Gelenkspiegelung gibt und man trotzdem hineinschauen kann. Fünftens: Das geht heutzutage fast immer ambulant.
Was sagt Claudia Bender, die zu den Menschen zählt, für die Beweglichkeit das A und O ist? „Vier Monate habe ich massive Schmerzen gehabt. Jetzt fühle ich mich auf einem sehr guten Weg.“Bodden sagt, sie werde keine bleibenden Einschränkungen davontragen.
Und daran hat – wir wollen ihn nicht vergessen – auch Eugen Bircher irgendwie seinen Anteil.