Der Schutz der Heimatlosen bröckelt
Vor 70 Jahren wurde die Flüchtlingskonvention bei einer Sonderkonferenz der Vereinten Nationen verabschiedet. Sie soll Millionen Menschen einen letzten Funken Hoffnung bewahren. Aber die Vereinbarung hat Lücken.
GENF Es war eine Rekordmeldung, auf deren Veröffentlichung die Uno gern verzichtet hätte: Ende 2020 befanden sich mehr als 82 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Seit Jahren kennt der Trend in der UN-Statistik der Not nur eine Richtung: nach oben. Die Zahlen versperren den Blick auf das Leid der Opfer. Jede Zahl steht für einen entwurzelten Menschen, ein Kind aus Syrien, eine Frau aus Afghanistan. Sie wurden Opfer von Gewalt, Krieg und Unterdrückung. Es bietet sich also ein düsteres Bild, wenn die Vereinten Nationen am 28. Juli an 70 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention erinnern. In einer Welt im Umbruch gerät auch die Konvention selbst zunehmend unter Druck.
Bis heute bildet das Abkommen das Fundament des globalen Schutzes der Flüchtlinge. Der Pakt hat seit Dekaden sichergestellt, dass Millionen Menschen auf der Flucht noch einen Funken Hoffnung in ihrem Herzen bewahren. Sie listet ihre Rechte auf, wie den Zugang zu den Gerichten des Gastlandes. Sie nennt aber auch ihre Pflichten, wie die Achtung der Gesetze im Gastland. Herausragend ist das Verbot der Aus- oder Zurückweisung von Flüchtlingen in ein Land, in dem ihnen Verfolgung droht. Ausgenommen sind Flüchtlinge, die aus schwerwiegenden Gründen als Gefahr für die Sicherheit anzusehen sind oder verurteilte Verbrecher. Das wird oft übersehen.
Genauso oft berufen sich die Regierungen – auch die europäischen – nur auf die Artikel der Konvention, die ihnen nutzen oder mit denen sie bequem leben können. Schlimmer noch: Autokratische Regimes wie das in Belarus drohen offen mit dem Durchschleusen von Flüchtlingen und Migranten in andere Staaten als politisches Druckmittel. Für viele dieser Herrschercliquen ist die Konvention nur ein verstaubtes Papier aus dem vergangenen Jahrhundert.
Ohnehin bröckelt in Zeiten zunehmender Flüchtlingsbewegungen, der Pandemie und weiterer globaler Krisen der garantierte Schutz für Heimatlose langsam, aber sicher – es ist auch eine Frage der Ressourcen, ob und wie ein Staat einem Flüchtling Beistand leisten kann.
Und seit der vergangenen Jahrhundertwende richten die Generalsekretäre der UN, von Kofi Annan bis António Guterres, und die Zivilgesellschaft eindringliche Appelle an die Regierungen, die vielen Kriege friedlich beizulegen und alles zu unternehmen, damit neue Konflikte erst gar nicht entstehen. Denn ausufernde Gewalt innerhalb der Staaten und zwischen Staaten löst die größten Flüchtlingsbewegungen aus. Doch die Aufrufe zur Beseitigung der Fluchtursachen verhallen ungehört. So ging das Töten in Syrien in das elfte Jahr. Und immer wieder greifen Rivalen zu den Waffen wie in Äthiopiens Krisenprovinz Tigray. Den Preis für die Kämpfe zahlen die Zivilisten.
Um diesen Menschen zu helfen, einigten sich vor genau 70 Jahren Staaten der UN auf die Genfer Flüchtlingskonvention. Am 28. Juli 1951 verabschiedeten sie in Genf das Abkommen. Die Konvention entstand wie die Gründung der Uno selbst unter dem Eindruck der Barbarei des Zweiten Weltkriegs. Nach dem Ende des schlimmsten Konflikts der Geschichte irrten Millionen Flüchtlinge und Vertriebene in
Europa umher, mittel- und schutzlos. Der Weg zurück in die alte Heimat war versperrt.
Doch nach 70 Jahren weist die Flüchtlingskonvention Lücken und Schwachstellen auf. So gilt sie nur für Menschen, die aus ihrem Heimatland vor Verfolgung und Gewalt in ein anderes Land flüchteten. Für Binnenflüchtlinge, für Menschen also, die im eigenen Land Schutz suchen, treffen die Bestimmungen nicht zu. Das gilt ebenso für neue Flüchtlinge, an die nach dem Zweiten Weltkrieg noch kein Jurist dachte: die Klimaflüchtlinge. Sie versuchen, Hitzewellen, Dürren, Stürmen und Überschwemmungen zu entkommen. Auch ihre Zahl dürfte steigen. Und so wächst auch ihre Not, in die sie unverschuldet rutschen.