Wege ins Unvorhersehbare
Der mit dem Oscar ausgezeichnete japanische Regisseur Ryusuke Hamaguchi hat mit seinem neuen Film „Evil Does Not Exist“ein weiteres Meisterwerk abgeliefert. Im Kern geht es um das Thema Veränderung.
(kna) Dass das Böse in dem Film von Ryusuke Hamaguchi nicht existiert, sollte man nicht von vornherein glauben. Dennoch ist nichts Metaphysisches an diesem Film. Das „Böse“, wenn es eines geben sollte, ist nicht jenseits, sondern diesseits der Baumkronen, unter denen in den ersten Minuten die Kamera entlangfährt. Es liegt jedoch nicht in dem, was die Kamera sieht, in der Natur, sondern im Blick des Betrachters.
Der Film spielt in einer winterlichen, sonnendurchstrahlten Waldidylle in den japanischen Bergen. Die Menschen führen hier ein einfaches, glückliches Leben. Takumi (Hitoshi Omika), ein alleinerziehender Vater, der mit seiner jungen Tochter abgeschieden im Wald haust, hackt Holz. Das Wasser für die Nudelsuppe kommt direkt aus der Quelle; im Wald wächst wildes Wasabi. Wenn das „Böse“in dieses Paradies Einzug hält, dann unter zwei Vorzeichen. Zum einen will eine Künstleragentur hier eine „Glamping“-Anlage bauen, die „Glamour“und „Camping“vereint und für die Umwelt eine hohe Belastung darstellt. Zum anderen ist der Wald, in dem Takumis Tochter oft allein unterwegs ist, bei aller Schönheit nicht ungefährlich.
Ryusuke Hamaguchi ist ein hervorragender Regisseur. Sein Plan ist klar und transparent; er filmt in großzügigen, weiten Einstellungen, die nie etwas Allgemeines haben, sondern absolut präzise sind. Die Position der Kamera bleibt entspannt, ohne den Figuren allzu sehr auf die Pelle zu rücken. Es gibt eine ruhige Perfektion in den Filmen von Hamaguchi, und einen exakten Rahmen um die Charaktere, in dem Ambivalenzen und Fluktuationen ihren Platz haben.
„Evil Does Not Exist“hätte eine durchschaubare ökologische Fabel darüber werden können, wie geldgierige Kapitalisten in die Umwelt eingreifen und sich eine naturverbundene Dorfgemeinschaft dagegen wehrt. Doch der Film entwickelt sich nicht entlang einer starren Drehbuchmechanik, sondern entlang von Objekten, Spuren, narrativen Abbiegungen und Assoziationen. Hamaguchi erforscht Wege ins Unvorhersehbare, die zu Fuß durch den Wald oder mit dem Auto auf der Straße zurückgelegt werden. Oder die durch das Auffinden von Federn oder Rehspuren im Schnee entstehen. Nie weiß man, was daraus wird.
Spontan verlässt der Film das Dorf, folgt den Abgesandten der dubiosen Agentur nach Tokio zu einer Videokonferenz. Die Veränderungen in der Erzählung werden bei Hamaguchi durch Mikroereignisse im Bild herbeigeführt, die überdeutlich und zugleich doch subtil sind. So sieht man nach dem Ende der Videokonferenz das Büro auf einem (im Büro aufgestellten) Flachbildschirm; hinter dem rauchenden Chef in Denkerpose befindet sich ein Gemälde, das einen rauchenden Mann in Denkerpose zeigt. Solch ironische Verdoppelungen sind in Wahrheit Verschiebungen, die das Bild von sich selbst ablösen und eine andere Schicht, eine „Rückseite“des gezeigten Realen offenbaren; die Figuren werden dabei von ihrem vorgegebenen Pfad ab- und neuen Möglichkeiten zugeführt.
Die Personen im Film sind ohne Unterlass mit einem Sprechen konfrontiert, das ihre Beziehungen verkompliziert. Takumi und die Dorfbewohner bringen ständig neue Argumente hervor, die dem wenig durchdachten Plan der „Glamping“Anlage entgegenstehen. Die Sprache der „Eindringlinge“stößt noch dort auf Widerstand, wo diese sich den Einheimischen annähern und die lokale Nudelsuppenspezialität als „wärmend“loben, während der Wirt korrigiert, bei dem Gericht ging es nicht um Wärme, sondern Geschmack.
Ebenso wie die Natur erzeugt die sprachliche Existenz der Menschen nichts fundamental „Böses“, sondern etwas Undurchdringliches. Etwas, das sich entzieht und widersteht, aber gerade dadurch die Möglichkeit eröffnet, sich zu verändern, im Guten wie im Schlechten. Auf diese Weise kann jenseits der Entfremdung eine neue Gemeinschaft entstehen – oder zerfallen. Das Böse existiert nicht – nur die Möglichkeit, dass es existiert oder auch nicht.
Diese Möglichkeit ist bei Hamaguchi ganz und gar eine Angelegenheit der Perspektive: der Kamera oder des Bildes. Des Kinos also, das auch eine Sprache ist.
„Evil Does Not Exist“Japan 2023 – Regie: Ryusuke Hamaguchi; mit Hitoshi Omika, Ryo Nishikawa; 107 Minuten