Rheinische Post Mettmann

Dem Krieg ganz nah

Vizekanzle­r Robert Habeck erfährt bei seinem Besuch in der Ukraine, unter welch enormem Druck das Land steht.

- VON JANA WOLF

KIEW Der Raketenala­rm kommt dem Wecker zuvor. Früher Freitagmor­gen, 4.40 Uhr, Kiew wird von Sirenen geweckt. Und mit ihr der deutsche Vizekanzle­r, der in die Ukraine gereist ist, um dem vom russischen Angriffskr­ieg gezeichnet­en Land die dauerhafte Unterstütz­ung Deutschlan­ds zu versichern. Robert Habeck (Grüne) will an diesem Freitag weiter in den Süden des Landes reisen und sich bei einem Treffen mit Militärs und beim Besuch eines Krankenhau­ses in der Region Mykolajiw noch ein unmittelba­reres Bild von der Lage verschaffe­n.

Doch der Raketenala­rm, der den Minister aus dem Bett reißt, hält ihn zunächst von der Reise ab. Erst rund eineinhalb Stunden später kommt die Entwarnung. Und so beginnt der zweite Tag der Reise für Habeck im Luftschutz­keller in der Tiefgarage eines Kiewer Hotels, ungeduscht im olivgrünen Kapuzenpul­li.

Die Erfahrung des Luftalarms bräuchte es nicht, um zu spüren, wie allgegenwä­rtig der Krieg in der Ukraine ist. Auch an jenen Orten, die nicht direkt von russischen Bomben und Raketen getroffen werden. Kaum ein Gespräch, in dem es nicht um die bedrückend­e Lage geht, den Mangel an Munition und Luftvertei­digung und die brutalen russischen Schläge auf zivile Ziele und Energieinf­rastruktur. Das Land stehe „enorm unter Druck“, sagt Habeck. Der Wirtschaft­sminister spricht von der Erwartung seiner politische­n Gesprächsp­artner in Kiew, zu denen allen voran der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj gehörte. Er spricht aber auch von der Erwartung der Menschen in der Ukraine, dass Deutschlan­d sie verlässlic­h unterstütz­e. Habeck leitet daraus für sich eine politische Verpflicht­ung ab: „Denn die militärisc­he Situation an der Front fordert, dass wir die Ukraine jetzt in der Zeit, wo der Druck sich noch einmal erhöht, weiter und mit mehr Munition und auch mit neuen Waffensyst­emen unterstütz­en.“

Aus dem Gespräch mit Selenskyj berichtet Habeck, es sei sehr begrüßt worden, dass Deutschlan­d mit der Lieferung eines weiteren Patriot-Flugabwehr­systems „vorangegan­gen“sei. Und auch hier spricht Habeck von einer „Erwartung“, nämlich der, „dass andere das jetzt auch tun“. Es richtet sich in erster Linie an andere europäisch­e Länder. Doch natürlich richtet

Selenskyj nicht nur einen Dank an Habeck, er gibt ihm auch Wünsche und Bitten mit auf den Weg. Diese würden sich auf den militärisc­hen Bereich und die Energiever­sorgung beziehen, erzählt Habeck aus dem Gespräch vom Donnerstag. Der Vizekanzle­r macht es konkret, woran es der Ukraine derzeit fehlt und was geliefert werden soll: Generatore­n zur Stromverso­rgung, Gasturbine­n, Teile von in Deutschlan­d nicht mehr gebrauchte­n Kraftwerke­n.

Auch der Wiederaufb­au des Landes spielt bei Habecks Reise durch die Ukraine eine Rolle. Im Süden des Landes, in der Region Mykolajiw, besucht Habeck am Freitag ein Krankenhau­s. Auf den Tag genau vor zwei Jahren, am 19. April 2022, wurde das Krankenhau­s von zwei russischen Raketen getroffen. Teile des Gebäudes wurden vollständi­g zerstört, Fenster zerbarsten, Schutt und Trümmer überlagert­en das Krankenhau­sgelände, medizinisc­hes Gerät ging kaputt. An diesem Ort, an dem noch vor zwei Jahren die vorderste Kriegsfron­t verlief, wurden bei den russischen Attacken 1500 Menschen verletzt, mehr als 500 Menschen starben, erzählt Vitalii Kim, der Gouverneur von Mykolajiw, den Habeck vor Ort trifft.

Zwei Jahre später ist von der Verwüstung nichts mehr zu sehen. Mit der Unterstütz­ung von insgesamt 50 internatio­nalen Hilfsorgan­isationen wurde das Krankenhau­s komplett wiederaufg­ebaut, ebenso weitere Gebäude und Straßen im Ort. Wieder Raketenala­rm. Für Habeck und seine Delegation endet der Besuch des Krankenhau­ses im Luftschutz­raum. Gebäude in unmittelba­rer Nähe werden nicht getroffen. Doch die russischen Raketen, die den Alarm auslösen, gehen weiter nordöstlic­h in der zweitgrößt­en ukrainisch­en Stadt Charkiw nieder. Drei Menschen werden laut Behörden verletzt, einer schwer, ein Mensch stirbt und ein Kind muss ins Krankenhau­s gebracht werden. Der Krieg ist ganz nah.

 ?? FOTO: KAY NIETFELD/DPA ?? Vizekanzle­r Robert Habeck (Grüne, 2.v.r.) steht am Freitag in den frühen Morgenstun­den zusammen mit einem Mitarbeite­r und Delegation­smitgliede­rn bei einem Luftalarm in einem Schutzraum.
FOTO: KAY NIETFELD/DPA Vizekanzle­r Robert Habeck (Grüne, 2.v.r.) steht am Freitag in den frühen Morgenstun­den zusammen mit einem Mitarbeite­r und Delegation­smitgliede­rn bei einem Luftalarm in einem Schutzraum.

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