„Die meisten Menschen blicken irgendwo auf den Bereich zwischen Nase und Augen“
DÜSSELDORF Wer es kann, gilt als stark und selbstbewusst: dem anderen in die Augen zu schauen. Menschen mit autistischen Störungen oder Sozialphobien können es nicht so gut. Doch eine aktuelle Studie zeigt: Oft steckt hinter dem Vermeiden des Augenkontakts auch nur eine harmlose und grundsätzliche „Blick-Strategie“.
Maximilian Broda und Ben de Haas von der Universität Gießen haben insgesamt 1,8 Millionen Augenbewegungen analysiert, die mit einem Eye-Tracker bei rund 400 Testpersonen aufgezeichnet wurden, als sie sich die Bilder von alltäglichen Szenen anschauten. Darunter befanden sich die Fotos von Gesichtern, aber auch von Gegenständen wie einem Computer, einem Hamburger oder einer Cola-Dose. Das Ergebnis: Die Probanden, die eher die Augenpartie, also den oberen Gesichtsanteil eines Menschen fokussierten, schauten auch bei unbelebten Objekten auf deren oberen Bereich. „Wer höher auf ein Gesicht schaut“, erläutert Broda, „schaut auch höher auf eine Cola-Dose.“
Insgesamt ließen sich 50 Prozent der Unterschiede beim Betrachten von Gesichtern, ob man also eher auf die oberen oder unteren Gesichtspartien schaute, durch das generelle Blickverhalten der Probanden erklären. Wenn also jemand nicht in die Augen, sondern mehr auf Mund oder Kinn seines Gegenübers blickt, erklärt sich das oft daraus, dass er auch bei einem Hamburger dessen Unterseite fokussieren würde. Man sollte also nicht vorschnell auf Schüchternheit oder sogar eine autistische Störung wie das Asperger-Syndrom schließen.
Bleibt die Frage, weswegen Menschen bevorzugt den oberen oder unteren Bereich von Gegenständen und Gesichtern fokussieren. Die Gießener Psychologen vermuten, dass dies daran liegt, wie wir unser visuelles Feld erfassen. „Der Punkt, den wir fixieren, ist der Punkt, an dem wir die höchste Auflösung beim Sehen haben“, erklärt Broda. Deswegen bewegen wir ja auch unsere Augen, um möglichst detaillierte Informationen von verschiedenen Orten des visuellen Feldes bekommen. Man könnte auch sagen, dass wir es „optisch abtasten“, indem wir immer wieder unterschiedliche Punkte in ihm fixieren.
Jenseits des Fixationspunktes fällt die optische Auflösung ab, wir sehen dort also mit deutlich weniger Schärfe. Doch dieser Abfall erfolgt sehr ungleichmäßig und hängt stark vom Individuum ab, und das kann, so die Theorie, konkrete Folgen auf das jeweilige Blickverhalten haben. Wenn etwa jemand oberhalb des Fixationspunktes weniger scharf sieht als unterhalb, wird er seinen fixierenden, schärfetauglichen Blick weiter nach oben richten, um mehr Informationen von dort zu bekommen. Und umgekehrt wird er den Fokus weiter nach unten verschieben, wenn er unterhalb des Fixationspunktes unschärfer sieht. „Wir könnten durch unser Blickverhalten somit versuchen, die individuellen Defizite in unserem visuellen Feld zu kompensieren“, betont Broda.
Egal also, ob jemand mehr auf unseren Mund oder in unsere Augen blickt – es könnte seine triviale Ursache darin haben, dass er jenseits seines Fixationspunktes deutlich unschärfer sieht. Wobei man ohnehin einschränken muss, dass wir uns gegenseitig eher selten direkt in die Augen blicken. „Die meisten Menschen blicken irgendwo auf den Bereich zwischen Nase und Augen“, berichtet Broda. Wir meiden also, selbst wenn wir die obere Gesichtshälfte betrachten, eher den direkten Blickkontakt.
Und das hat, wie Shogo Kajimura und Michio Nomura von der Universität Kyoto herausgefunden haben, wohl auch einen ziemlich trivialen Grund. Das japanische Forscherduo platzierte 26 Probanden vor Bildschirme, auf denen jeweils ein Gesicht mit ihnen interagierte: Mal schaute es sie unverwandt an, mal sah es weg. In dieser Situation sollten die Probanden Wortassoziationen herstellen: Man nannte ihnen ein Substantiv (etwa „Ball“), zu dem sie ein passendes Verb finden sollten (etwa „werfen“). Es zeigte sich, dass die Reaktionszeit für diese Aufgabe im Durchschnitt kürzer ausfiel, wenn kein Blickkontakt bestand. Und zwar vor allem dann, wenn es kognitiv anspruchsvoller wurde und man Worte suchen musste, zu denen sich nicht so leicht ein passendes Pendant finden ließ, wie etwa „Himmel“.
Die Forscher interpretieren dieses Ergebnis so, dass wir größere Probleme haben, die richtigen Worte zu finden, wenn wir unserem Gegenüber in die Augen schauen. „Sprechen und Blickkontakt beanspruchen, auch wenn sie nach außen unabhängig voneinander wirken, ähnliche Ressourcen im Gehirn“, so ihre Erklärung. Wenn wir also die richtigen Worte finden wollen, müssen wir den Blickkontakt auch mal unterbrechen. Um konsequent beides durchzuhalten, fehlt uns einfach die Hirnkapazität.
Maximilian Broda Universität Gießen