Rheinische Post Mettmann

Die gefährlich­ste Phase des Krieges

ANALYSE Nato-Staaten wie Frankreich, Großbritan­nien und die USA wollen den Einsatz von Bodentrupp­en in der Ukraine nicht ausschließ­en. Kremlchef Putin ordnet Manöver seiner Atomstreit­macht an. Wie weit geht die Eskalation?

- VON MARTIN KESSLER

Kremlchef Wladimir Putin ist ein Bewunderer des sowjetisch­en Diktators Josef Stalin. Nicht nur als Sieger im „Großen Vaterländi­schen Krieg“gegen das nationalso­izialistis­che Deutschlan­d, dessen Endes die Russen am Donnerstag mit großen Paraden gedachten, auch als militärisc­her Stratege, Imperialis­t und skrupellos­er Machtpolit­iker genießt Stalin die Wertschätz­ung des aktuellen russischen Präsidente­n. Und noch etwas verbindet die beiden Diktatoren: Sollte Putin als Präsident bis 2030 im Amt bleiben, wäre er auf das Jahr genau so lange an der Macht wie sein sowjetisch­es Vorbild.

Wie Stalin denkt Putin in Dimensione­n von Großmacht, militärisc­her Drohung und globalen Einflusssp­hären. Aus dieser Sicht heraus hat er die Ukraine als früheren Teil der Sowjetunio­n angegriffe­n. Und nach einer Periode der Niederlage­n und der unsägliche­n Inkompeten­z (auch darin ähnelt er Stalin) hat er schneller gelernt, als es ihm seine westlichen Gegner zugetraut hätten. Heute ist die russische Wirtschaft anders als der Westen auf Krieg eingestell­t. Die Produktion, insbesonde­re von Munition und Waffen, ist höher als vor dem Beginn des Überfalls.

Für die Ukraine hat sich die Lage an der Front dramatisch verschärft. Die russische Armee dringt langsam, aber sicher vorwärts, die Einheiten Kiews sind teilweise unvollstän­dig und schlecht ausgerüste­t. Die Luftabwehr und die Vorwärtsve­rteidigung mit Raketen und amerikanis­chen Marschflug­körpern haben in bisher nicht gekanntem Ausmaß an Effizienz und Treffsiche­rheit abgenommen. „Die Front in der Ukraine ist gefährdet“, meint der Politikwis­senschaftl­er und Strategie-Experte Alexander Libman, der an der FU Berlin lehrt.

Dank der jüngst freigegebe­nen Waffenhilf­e des US-Kongresses ist derzeit die Lage nach Ansicht des Berliner Professors noch beherrschb­ar. „Es ist allerdings fraglich, wie lange noch“, schränkt der Russlandke­nner ein, der selbst aus Moskau stammt. Diese Sicht ist inzwischen auch in der Nato verbreitet. Sowohl der französisc­he Präsident Emmanuel Macron als auch der britische Premiermin­ister Rishi Sunak und nicht zuletzt Hakeem Jeffries, der einflussre­iche demokratis­che Minderheit­sführer im US-Repräsenta­ntenhaus, eine der beiden Kammern des Kongresses, wollen deshalb den Einsatz westlicher Bodentrupp­en in der Ukraine nicht mehr ausschließ­en. Nur sie könnten im Falle eines Falles die Front stabilisie­ren. „Bei den Bodentrupp­en ist die Nato Russland überlegen“, sagt auch der Geostrateg­e Libman. Bundeskanz­ler Olaf Scholz könnte also schnell isoliert sein, wenn er seinen klaren Verzicht auf Bodentrupp­en im Fall des Falles aufrechter­halten wollte.

Für den Konflikt in der Ukraine bedeutet das alles nichts Gutes. Man mag es zwar begrüßen, dass Putin durch die Drohungen mit Bodentrupp­en über die strategisc­hen Optionen des Westens im Unklaren gelassen wird. Allerdings könnte der Krieg am östlichen Rand Europas damit vollends unkontroll­ierbar werden. Denn gleichzeit­ig zu den Äußerungen über mögliche Nato-Bodentrupp­en hat Putin Manöver seiner atomaren Streitmach­t an der Grenze zur Ukraine angeordnet. Sein wichtigste­r Verbündete­r in der Region, die autoritär regierte Republik Belarus, ist bei den Übungen dabei. „Die Eskalation ist besorgnise­rregend“, sagt der Kreml-Experte Libman und fügt hinzu: „Im Kern heißt es jetzt auf beiden Seiten: Man ist zu allem bereit. Das gilt für den Bodeneinsa­tz aufseiten der Nato und den Einsatz nichtstrat­egischer nuklearer Streitkräf­te aufseiten Russlands.“

Putin erhebt einmal mehr Vorwürfe gegen den Westen Vorwürfe Russlands Präsident Wladimir Putin hat bei der Militärpar­ade zum 79. Jahrestag des Sieges über das NS-Regime einmal mehr Vorwürfe gegen den Westen erhoben. Dieser versuche, die Erinnerung an den sowjetisch­en Sieg zu verfälsche­n, sagte er am Donnerstag in Moskau. Die Wahrheit störe „diejenigen, die ihre koloniale Politik auf Heuchelei und Lüge aufbauen“, sagte er. „Revanchism­us, die Verhöhnung der Geschichte, das Bemühen, die heutigen Nachahmer der Nazis zu rechtferti­gen – das ist

Teil der allgemeine­n Politik westlicher Eliten, immer neue regionale Konflikte zu entzünden, ethnische oder religiöse Konflikte.“Den Vorwurf, den Nazis nachzufolg­en, erhebt Putin gewöhnlich gegen die Ukraine.

Ukraine Vor den mehr als 9000 angetreten­en Soldaten betonte der Präsident die Verteidigu­ngsfähigke­it Russlands. Er nannte die Soldaten, die in der Ukraine kämpfen, Helden.

Parade Auf die Rede folgte der Vormarsch der russischen Soldaten. An Technik gezeigt wurden unter anderem mobile Abschussra­mpen der strategisc­hen Atomrakete­n RS-24 Jars. Auch gab es einen Überflug russischer Kampfjets. (dpa)

Ein Szenario sieht so aus: Die ukrainisch­e Front droht zu zerbrechen – trotz Luftabwehr, neuer Kampfflugz­euge und Marschflug­körper. In diesem Fall sieht sich die Nato zum Eingreifen genötigt, weil bei einer Eroberung der Ukraine ein Überfall auf Länder des Bündnisses wie Litauen, Estland und Lettland, vielleicht sogar Polen, erfolgen könnte. Damit wäre aber die Nato Kriegspart­ei, was sie bislang mit aller Kraft verhindern wollte. Eine direkte Konfrontat­ion zwischen dem Westen und Russland hatte es bislang noch nicht gegeben – nicht einmal in den schlimmste­n Zeiten des Kalten Kriegs, als das Land noch zur Sowjetunio­n gehörte. Militärisc­h könnte die direkte Unterstütz­ung der ukrainisch­en Einheiten durch Nato-Militärs zum Umschwung auf dem Schlachtfe­ld führen. Damit wäre Moskau versucht, seine taktischen Atomwaffen einzusetze­n. Die Situation würde vollends unkalkulie­rbar, die Eskalation wäre nicht mehr zu stoppen.

Dem Westen bleibt in dieser Situation nur noch der Weg, die Hilfe für die Ukraine noch stärker zu forcieren. Das ist schon schwierig genug, weil sich die Lieferunge­n mit Munition, derzeit die wichtigste Aufgabe, kaum schnell steigern lassen. Auch das Fehlen von Soldaten auf ukrainisch­er Seite ist in kurzer Frist kaum auszugleic­hen, will der Westen auf den Einsatz eigener Bodentrupp­en doch lieber verzichten.

Die Lage in der Ukraine ist derzeit gefährlich­er, als sie im Westen wahrgenomm­en wird. Auch die Politik gerade in Deutschlan­d hat angesichts der kommenden Wahlen kaum Interesse, die dramatisch­e Lage offen einzugeste­hen. Deshalb spielen derzeit alle auf Zeit. Dazu gehört auch die Drohung, den Einsatz von Bodentrupp­en nicht auszuschli­eßen. Ausgerechn­et am Tag der Befreiung vom NS-Terror steht Putin so stark da wie noch nie seit Ausbruch des Konflikts. Und wie damals bei Stalin, als der Eiserne Vorhang über Europa niederging, ist ein eiserner Wille des Westens nötig, die Bedrohung abzuwehren.

„Die Front in der Ukraine ist gefährdet“Alexander Libman Professor für Politikwis­senschaft

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FOTO: DPA Russische Soldaten bei der Militärpar­ade zum Tag des Sieges.

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