Die gefährlichste Phase des Krieges
ANALYSE Nato-Staaten wie Frankreich, Großbritannien und die USA wollen den Einsatz von Bodentruppen in der Ukraine nicht ausschließen. Kremlchef Putin ordnet Manöver seiner Atomstreitmacht an. Wie weit geht die Eskalation?
Kremlchef Wladimir Putin ist ein Bewunderer des sowjetischen Diktators Josef Stalin. Nicht nur als Sieger im „Großen Vaterländischen Krieg“gegen das nationalsoizialistische Deutschland, dessen Endes die Russen am Donnerstag mit großen Paraden gedachten, auch als militärischer Stratege, Imperialist und skrupelloser Machtpolitiker genießt Stalin die Wertschätzung des aktuellen russischen Präsidenten. Und noch etwas verbindet die beiden Diktatoren: Sollte Putin als Präsident bis 2030 im Amt bleiben, wäre er auf das Jahr genau so lange an der Macht wie sein sowjetisches Vorbild.
Wie Stalin denkt Putin in Dimensionen von Großmacht, militärischer Drohung und globalen Einflusssphären. Aus dieser Sicht heraus hat er die Ukraine als früheren Teil der Sowjetunion angegriffen. Und nach einer Periode der Niederlagen und der unsäglichen Inkompetenz (auch darin ähnelt er Stalin) hat er schneller gelernt, als es ihm seine westlichen Gegner zugetraut hätten. Heute ist die russische Wirtschaft anders als der Westen auf Krieg eingestellt. Die Produktion, insbesondere von Munition und Waffen, ist höher als vor dem Beginn des Überfalls.
Für die Ukraine hat sich die Lage an der Front dramatisch verschärft. Die russische Armee dringt langsam, aber sicher vorwärts, die Einheiten Kiews sind teilweise unvollständig und schlecht ausgerüstet. Die Luftabwehr und die Vorwärtsverteidigung mit Raketen und amerikanischen Marschflugkörpern haben in bisher nicht gekanntem Ausmaß an Effizienz und Treffsicherheit abgenommen. „Die Front in der Ukraine ist gefährdet“, meint der Politikwissenschaftler und Strategie-Experte Alexander Libman, der an der FU Berlin lehrt.
Dank der jüngst freigegebenen Waffenhilfe des US-Kongresses ist derzeit die Lage nach Ansicht des Berliner Professors noch beherrschbar. „Es ist allerdings fraglich, wie lange noch“, schränkt der Russlandkenner ein, der selbst aus Moskau stammt. Diese Sicht ist inzwischen auch in der Nato verbreitet. Sowohl der französische Präsident Emmanuel Macron als auch der britische Premierminister Rishi Sunak und nicht zuletzt Hakeem Jeffries, der einflussreiche demokratische Minderheitsführer im US-Repräsentantenhaus, eine der beiden Kammern des Kongresses, wollen deshalb den Einsatz westlicher Bodentruppen in der Ukraine nicht mehr ausschließen. Nur sie könnten im Falle eines Falles die Front stabilisieren. „Bei den Bodentruppen ist die Nato Russland überlegen“, sagt auch der Geostratege Libman. Bundeskanzler Olaf Scholz könnte also schnell isoliert sein, wenn er seinen klaren Verzicht auf Bodentruppen im Fall des Falles aufrechterhalten wollte.
Für den Konflikt in der Ukraine bedeutet das alles nichts Gutes. Man mag es zwar begrüßen, dass Putin durch die Drohungen mit Bodentruppen über die strategischen Optionen des Westens im Unklaren gelassen wird. Allerdings könnte der Krieg am östlichen Rand Europas damit vollends unkontrollierbar werden. Denn gleichzeitig zu den Äußerungen über mögliche Nato-Bodentruppen hat Putin Manöver seiner atomaren Streitmacht an der Grenze zur Ukraine angeordnet. Sein wichtigster Verbündeter in der Region, die autoritär regierte Republik Belarus, ist bei den Übungen dabei. „Die Eskalation ist besorgniserregend“, sagt der Kreml-Experte Libman und fügt hinzu: „Im Kern heißt es jetzt auf beiden Seiten: Man ist zu allem bereit. Das gilt für den Bodeneinsatz aufseiten der Nato und den Einsatz nichtstrategischer nuklearer Streitkräfte aufseiten Russlands.“
Putin erhebt einmal mehr Vorwürfe gegen den Westen Vorwürfe Russlands Präsident Wladimir Putin hat bei der Militärparade zum 79. Jahrestag des Sieges über das NS-Regime einmal mehr Vorwürfe gegen den Westen erhoben. Dieser versuche, die Erinnerung an den sowjetischen Sieg zu verfälschen, sagte er am Donnerstag in Moskau. Die Wahrheit störe „diejenigen, die ihre koloniale Politik auf Heuchelei und Lüge aufbauen“, sagte er. „Revanchismus, die Verhöhnung der Geschichte, das Bemühen, die heutigen Nachahmer der Nazis zu rechtfertigen – das ist
Teil der allgemeinen Politik westlicher Eliten, immer neue regionale Konflikte zu entzünden, ethnische oder religiöse Konflikte.“Den Vorwurf, den Nazis nachzufolgen, erhebt Putin gewöhnlich gegen die Ukraine.
Ukraine Vor den mehr als 9000 angetretenen Soldaten betonte der Präsident die Verteidigungsfähigkeit Russlands. Er nannte die Soldaten, die in der Ukraine kämpfen, Helden.
Parade Auf die Rede folgte der Vormarsch der russischen Soldaten. An Technik gezeigt wurden unter anderem mobile Abschussrampen der strategischen Atomraketen RS-24 Jars. Auch gab es einen Überflug russischer Kampfjets. (dpa)
Ein Szenario sieht so aus: Die ukrainische Front droht zu zerbrechen – trotz Luftabwehr, neuer Kampfflugzeuge und Marschflugkörper. In diesem Fall sieht sich die Nato zum Eingreifen genötigt, weil bei einer Eroberung der Ukraine ein Überfall auf Länder des Bündnisses wie Litauen, Estland und Lettland, vielleicht sogar Polen, erfolgen könnte. Damit wäre aber die Nato Kriegspartei, was sie bislang mit aller Kraft verhindern wollte. Eine direkte Konfrontation zwischen dem Westen und Russland hatte es bislang noch nicht gegeben – nicht einmal in den schlimmsten Zeiten des Kalten Kriegs, als das Land noch zur Sowjetunion gehörte. Militärisch könnte die direkte Unterstützung der ukrainischen Einheiten durch Nato-Militärs zum Umschwung auf dem Schlachtfeld führen. Damit wäre Moskau versucht, seine taktischen Atomwaffen einzusetzen. Die Situation würde vollends unkalkulierbar, die Eskalation wäre nicht mehr zu stoppen.
Dem Westen bleibt in dieser Situation nur noch der Weg, die Hilfe für die Ukraine noch stärker zu forcieren. Das ist schon schwierig genug, weil sich die Lieferungen mit Munition, derzeit die wichtigste Aufgabe, kaum schnell steigern lassen. Auch das Fehlen von Soldaten auf ukrainischer Seite ist in kurzer Frist kaum auszugleichen, will der Westen auf den Einsatz eigener Bodentruppen doch lieber verzichten.
Die Lage in der Ukraine ist derzeit gefährlicher, als sie im Westen wahrgenommen wird. Auch die Politik gerade in Deutschland hat angesichts der kommenden Wahlen kaum Interesse, die dramatische Lage offen einzugestehen. Deshalb spielen derzeit alle auf Zeit. Dazu gehört auch die Drohung, den Einsatz von Bodentruppen nicht auszuschließen. Ausgerechnet am Tag der Befreiung vom NS-Terror steht Putin so stark da wie noch nie seit Ausbruch des Konflikts. Und wie damals bei Stalin, als der Eiserne Vorhang über Europa niederging, ist ein eiserner Wille des Westens nötig, die Bedrohung abzuwehren.
„Die Front in der Ukraine ist gefährdet“Alexander Libman Professor für Politikwissenschaft