„Er war ein aufmerksamer Mensch“
Der Autor präsentiert in seinem Buch „Die Herrlichkeit des Lebens“seine Hauptfigur Franz Kafka aus einer ungewohnten Perspektive.
Herr Kumpfmüller, wie nah sind
Sie der wahren Lebensgeschichte Kafkas gefolgt?
KUMPFMÜLLER Ich habe einen Roman geschrieben, aber Genauigkeit war mir schon wichtig. Wenn man etwas von einem anderen Leben weiß, sollte man es schon berücksichtigen. Und das habe ich – wo möglich – getan.
Was für Fakten gibt es?
Das sind nicht allzu viele. KUMPFMÜLLER Es gibt Briefe von ihm aus seinem letzten Jahr – aber wenige. Zum Beispiel über seine Palästina-Pläne. Es gibt außerdem ein paar Berichte von Zeitgenossen und einen Text von seiner letzten großen Liebe: von Dora Diamant. Es ist eigentlich nur die Zusammenfassung eines Interviews, das eine französische Literaturwissenschaftlerin mit ihr geführt hat. Aber darin gibt es so ein paar Details, die ich auch übernommen habe. Etwa am Anfang in der Szene, in der Dora Fische ausnimmt und er sagt, dass das aber eine blutige Sache sei. Die Briefe, die die beiden sich geschrieben haben, sind allesamt verschollen. Ich habe aber alle Lebensorte der beiden besucht, soweit diese Stätten noch intakt waren. Ich wollte den Raum ermessen, in dem die Geschichte ihrer Begegnung stattfand. Aber ansonsten ist mein Buch ein Roman, der erzählt, wie es gewesen sein könnte.
Wie ernsthaft waren denn die Pläne Franz Kafkas, nach Palästina auszuwandern?
KUMPFMÜLLER Meine Mutmaßung ist: Er hatte hauptsächlich den Wunsch, aus Prag wegzukommen. Er wäre ja schon früher nach Berlin gezogen, wenn nicht der Erste Weltkrieg dazwischengekommen wäre. Ich meine das nicht negativ, aber ich habe den Eindruck, dass diese Palästina-Pläne mehr eine Koketterie waren. Und dann läuft ihm diese junge Dora da ins Leben. Eine Ostjüdin. Kafka war ein Modernist und hat erst über Dora tieferen Kontakt zum Judentum bekommen. Er hat mit ihr die erste Schabbatfeier seines Lebens mitgemacht. Das sagt ja schon alles.
Dabei waren die letzten Monate seines Lebens völlig unstet, mit etlichen Umzügen. Und das bei einem Schriftsteller, dem Struktur und Ruhe absolut wichtig waren. KUMPFMÜLLER Das stimmt. Aber die Selbstverständlichkeit, mit der er es tut, scheint auch zu zeigen, dass dieses Leben für ihn und seinen Geist bekömmlich gewesen ist. Was mich für Kafka so gefreut hat, war, dass sein letztes Lebensjahr im Grunde die Revision seiner gesamten Lebensauffassung gewesen ist.
Zum Beispiel?
KUMPFMÜLLER Er lebt mit einer Frau in einer kleinen Wohnung – und schreibt! Das ist die Revision von allem, an das er bisher geglaubt hat. Dass der Künstler nur für die Kunst leben darf und alles andere aus seinem Leben tilgen muss, ist Blödsinn. Ich bin kein Freund von diesem Mythos, dass der wahre Künstler sozusagen asozial sein muss. Und das revidiert Kafka in einem für ihn sehr gutem Sinne. In letzter Minute sozusagen.
Gehört zu Kafkas spätem Lebenswandel auch die überlieferte Episode mit dem kleinen Mädchen, das seine Puppe verloren hat, und Kafka sie dann mit Briefen der Puppe zu trösten versucht? Tauchte er damit ins konkrete Leben ein? KUMPFMÜLLER So kann man es sehen. Vor allem: Er war da alles andere als inkompetent. Es gibt dazu eine weitere, hinreißende Anekdote aus den Erinnerungen von Dora Diamant, die ich ärgerlicherweise nicht übernommen habe. Im jüdischen Volksheim im Ferienlager war ein Mädchen durchs Haus gelaufen und gestürzt. Und dann geht er zu dem weinenden Mädchen hin und sagt: „Du bist aber gut gefallen.“Das finde ich großartig. Nach dem Motto: Wir werden alle fallen, die Frage ist nur, ob gut oder schlecht. Das ist so weise und so human von ihm. Dieses Klischee von Kafka, versunken in düstersten Welten, passt da wirklich gar nicht mehr. Er war ein soziales Wesen, ein aufmerksamer Mensch.
Trotz seiner Texte?
KUMPFMÜLLER Es ist ja bekannt, dass Kafka seine Texte immer seinen Schwestern vorgelesen hat. Und die haben sich kaputtgelacht. Viele Texte sind doch auch urkomisch. Selbst „Die Verwandlung“ist im Grunde schwarzer Humor.
Kafka sagt dem kleinen Mädchen, dass es gut gefallen sei. Würden Sie sagen, dass er trotz seiner schlimmen Krankheit an der Seite von Dora Diamant gut gestorben ist? KUMPFMÜLLER Das habe ich in meinem Roman zumindest behauptet. Und das glaube ich auch. Aus zwei Gründen: Die Menschen damals waren in Sachen Lebenszeit nicht so schrecklich verwöhnt wie wir Heutigen. Natürlich ist er trotzdem mit nur 40 Jahren früh gestorben. Das andere: Es war ein großer Trost, dass Dora nicht weggelaufen ist, sondern bis zur letzten Minuten bei ihm blieb. Wenn man generell von der Angst des Sterbens spricht, dann gehört dazu auch die Sorge, dass man in dieser Stunde allein sein könnte. Und das war Kafka nicht.
Der Titel von Buch und Film,
„Die Herrlichkeit des Lebens“, ist damit das Resümee seines Lebens? KUMPFMÜLLER Was ich an diesem Zitat von Kafka so wunderbar finde ist, dass man diese Herrlichkeit, dieses Glück nicht erzwingen kann, bestenfalls erbitten. Das ist eine Demutsgeste. Diese Haltung, die ja völlig aus der Mode gekommen ist, schätze ich sehr.
Ist ein Leben immer dann herrlich, wenn ich akzeptiere, dass es so ist, wie es ist?
KUMPFMÜLLER Ja, und dass es endlich und nicht in jeder Phase gut ist, und dass man sorgsam mit den Menschen umgehen muss, die man um sich hat.
Wie sind Sie überhaupt auf dieses Kafka-Zitat gestoßen? KUMPFMÜLLER Bei meiner Vorbereitung zum Roman habe ich damals noch einmal den ganzen Kafka gelesen. Ich wollte ihn nicht als Wissenschaftler lesen, also ohne Zettelkasten mit genialen Formulierungen, derer es genug gibt. Ich wollte ihn einfach nur lesen und dann schauen, was das Gelesene mit mir macht. Das Einzige, was ich mir dann angestrichen habe, war diese Herrlichkeits-Passage, weil die so verblüffend war. Dann war ich fertig mit dem Buch und hatte keinen Titel. Und wirklich: Erst als eine Freundin mich nach einem Titel fragte, kam mir diese Passage wieder in den Sinn.
Alles ist im Präsens geschrieben. KUMPFMÜLLER Für mich gab es zwei Entscheidungen beim Schreiben dieses Buches. Erstens: An keiner Stelle den Namen Kafka verwenden, der mich sofort zum Verstummen gebracht hätte, weshalb im ganzen Buch nur von Franz oder dem Doktor die Rede ist. Und zweitens: Im Präsens schreiben. Anfangs schrieb ich im Präteritum und machte die Erfahrung, dass ich ihn vor lauter Schwere und Vergangenheit gar nicht sehen konnte. In der Badewanne las ich dann einen Text von Antonioni, ebenfalls im Präsens geschrieben, und kapierte, dass das Präsens die richtige Zeitform ist. Präsens ist heller, man sieht besser.
Wie war Ihr Weg zu Kafka? KUMPFMÜLLER Der war lang. Ich habe mich mit ihm über den „Brief an den Vater“identifiziert. Da kam etwas zur Sprache, worin ich mich mit ihm verbunden fühlte, wofür ich selbst noch keine Sprache hatte – so mit 15, 16. Dann habe ich einen Roman im Stile Kafkas geschrieben, um in Kontakt mit ihm zu treten. Selbstverständlich war das eine verheerende Idee. Mein Anfang als Schriftsteller ist eigentlich Kafka; aber eben auf diese verdrehte Weise, so zu sein, wie er.
Was sollte man im Jubiläumsjahr von Franz Kafka lesen? KUMPFMÜLLER Wenn man ganz unbelastet sein will von all den Interpretationen, sollte man auf jeden Fall seine Briefe an Milena lesen, weil es einfach großartige Liebesbriefe sind. Aber auch „Die Verwandlung“– das ist im Grunde ein ganz einfacher Text über Mobbing: wie jemand ausgestoßen wird, bloß, weil er anders ist. Was dem Ausgestoßenen geschieht, ist wirklich brillant beschrieben. Dass viele Leute so schlechte Lektüre-Erinnerungen an Kafka haben, hat vielleicht auch damit zu tun, dass sie glauben, es gäbe die eine richtige Interpretation. Als existierte irgendein ein Geheimcode, mit dem man die Rätsel der Texte ein für alle Mal entschlüsseln und Kafka unter Kontrolle bringen könnte. Dabei geht es doch darum, das Unerklärliche zu akzeptieren. Auch Kafka selbst hat womöglich nicht alles verstanden, was er geschrieben hat.