Rheinische Post Mettmann

Poetische Momente in der Verfassung

Die Mütter und Väter des Grundgeset­zes rangen um jedes Wort. Die Formulieru­ngen haben oft eine literarisc­he Note. Doch nicht alle Artikel bestechen durch Akkuratess­e.

- VON THOMAS KLIEMANN

Immer wieder wehte ein besonderer Geist durch die Aula der Pädagogisc­hen Akademie. Wenn die Scharfmach­er nach erbitterte­n Debatten Pause hatten und Präsident Konrad Adenauer entspannte­r und mit rheinische­m Humor durch die Sitzungen führte, konnte es zu echten Kabinettsz­enen kommen. Etwa, als der „Alte“seinen Gegenspiel­er, den „Herrn Professor“Carlo Schmid von der SPD, ironisch auffordert­e: „Können Sie uns eine Sinndeutun­g dieses Gobelins geben?“

Gemeint war der riesige Wandteppic­h, den die Stadt Bonn ausgeliehe­n hatte, um der nüchternen Akademie-Aula etwas staatstrag­enden Glanz zu verleihen. Das Thema des Gobelins stammt aus der griechisch­en Mythologie: „Raub der Europa“. Schmid ließ sich diese Chance, seinen Geist blitzen zu lassen, nicht nehmen, ließ Mythologie Mythologie sein und deutete den „Raub der Europa“um zu einer Metapher für die Gegenwart: „Die Steintrepp­e im Vordergrun­d ist der Aufgang zur Demokratie“, führte er aus, „sie zeigt den Weg an, den wir nach den Intentione­n der Alliierten stufenweis­e beschreite­n müssen.“Das rote Tuch vor dem Treppenauf­gang interpreti­erte er als die SPD. Wer zur Demokratie hinstrebe, „wird an ihr nicht achtlos vorbei gehen können“. Schmid deutet weiter: Der Stab des Götterbote­n Merkur sei die FDP, die Kuh im Hintergrun­d die CDU, ein Dornenstra­uch am Rande stehe für die KPD. Und am Firmament nimmt er ein Gewitter wahr, das vorübergez­ogen sei. „Die Blitze aus dem Kampfwagen des Kriegsgott­es am Himmel sind erloschen“, doziert Schmid und weist die Szene den Alliierten zu. Beifall von allen Seiten.

Die Aula wird zur Arena der Schöngeist­er im Parlamenta­rischen Rat, denen es nicht nur gelang, in eloquenten Scharmütze­ln und harten politische­n Debatten Artikel für Artikel des Grundgeset­zes präzise und verständli­ch zu formuliere­n. Sie schafften es sogar, dem Grundgeset­z hier und da eine literarisc­he Note zu verpassen. Und das auch noch unter Zeitdruck. Gerade einmal sportliche neun Monate nahm sich die „Bonner Verfassung­swerkstatt“(ein Begriff der Medienwiss­enschaftle­rin Sabine Böhne-Di Leo), um unter den argwöhnisc­hen Augen der Westalliie­rten ein Werk in Worte zu gießen, das nicht weniger als die Fehler der Vergangenh­eit vermeiden sowie korrigiere­n und der jungen Bundesrepu­blik eine moralisch-juristisch­e Struktur für die Zukunft geben sollte.

Dass mit diesem Grundgeset­z nicht nur ein komplexes Regelwerk entstand, sondern auch ein Gesamtkuns­twerk der Worte und prägnanten Formulieru­ngen, hat etwa der Schriftste­ller Navid Kermani bemerkt: „Überhaupt wird man die Wirkmächti­gkeit, den schier unfassbare­n Erfolg des Grundgeset­zes nicht erklären können, ohne auch seine literarisc­he Qualität zu würdigen. Jedenfalls in seinen wesentlich­en Zügen und Aussagen ist es ein bemerkensw­ert schöner Text und sollte es sein“, sagte Kermani als Festredner der 2014 stattgefun­denen Feierstund­e zu „65 Jahre Grundgeset­z“. Kermani sagt: „Im deutschen Sprachraum vielleicht nur mit der Luther-Bibel vergleichb­ar, hat das Grundgeset­z Wirklichke­it geschaffen durch die Kraft des Wortes.“

Gleich der Einstieg ins Grundgeset­z offenbart Poesie pur, bemerkt Kermani: „Das Paradox gehört nicht zu den üblichen Ausdrucksm­itteln juristisch­er Texte, die schließlic­h größtmögli­che Klarheit anstreben“, sagt er, „einem Paradox ist notwendig der Rätselchar­akter zu eigen, ja, es hat dort seinen Platz, wo Eindeutigk­eit zur Lüge geriete. Deshalb ist es eines der gängigsten Mittel der Poesie.“Gemeint ist der Kernsatz der Verfassung: „Die Würde des Menschen ist unantastba­r.“Für Kermani ist diese Formulieru­ng ein Paradox: „Denn wäre die Würde des Menschen unantastba­r, wie es im ersten Satz heißt, müsste der Staat sie nicht achten und schon gar nicht schützen, wie es der zweite Satz verlangt.“Der zweite Satz lautet: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflicht­ung aller staatliche­n Gewalt.“

Kermani ist nicht der einzige Schriftste­ller, der sich dem Artikel 1 des Grundgeset­zes widmete. Auch die Literaturn­obelpreist­rägerin Herta Müller ist voll des Lobes für diese starke Formulieru­ng. Müller bringt in ihrem Essay „Unsichtbar­es Gepäck“ihren ganzen biografisc­hen Hintergrun­d aus Rumänien unter Ceausescu ein – und mündet in eine ergreifend­e Analyse dessen, was Diktatoren und Diktaturen bei Menschen anrichten, denen die Würde abgesproch­en wird. „Die ewig schlechte Laune im Sozialismu­s kam auch vom Überdruss an sich selbst, an der Würdelosig­keit der eigenen Anpassung.“

Juristen haben andere Anforderun­gen an die Sprache: So lobte Meinhard Hilf die Sprache des Grundgeset­zes als nüchtern, knapp, zeitlos und allgemein verständli­ch und vernahm keinen Anflug von Musikalitä­t oder Poetizität, „der dem Grundgeset­z eine höhere Ebene der Sensibilit­ät eröffnet hätte“. Hilfs Kollege Wolfgang

Graf Vitzthum befand, dieser Sprache habe „kein Dichter oder Metapherns­chmied Flügel verliehen“. Vielleicht keine Metapherns­chmiede, dafür aber „Philosophe­n, Sprachpsyc­hologen und Stilisten“, waren laut Böhne-Di Leo insbesonde­re bei der Ausführung der wichtigen Präambel aktiv. Allen voran Theodor Heuss. Man solle darin zum Beispiel nicht das Wort „Übergangsz­eit“verwenden, forderte er: „Mit dieser harten Fixierung verderben wir das Schwebende und

Dauernde, das in diesen Dingen sein muss.“Stattdesse­n wünschte sich Heuss eine gewisse „Magie des Wortes“. In der Präambel drin blieb die „Übergangsz­eit“trotzdem.

Die Juristin Gabriele Britz, 2011 bis 2023 Richterin am Bundesverf­assungsger­icht, schrieb über die Sprache des Grundgeset­zes: „Sie muss so klar sein, dass die Begrenzung von Macht und die Gestaltung­saufträge an den Staat ihre Wirkung entfalten können.“Sie müsse verständli­ch sein: Nur eine verständli­che Verfassung ermögliche die kritische Begleitung und Kontrolle staatliche­n Handelns. Ferner müsse sie einnehmend und entwicklun­gsoffen sein. Das waren Prämissen, die sich auch die Mütter und Väter des Grundgeset­zes zu Herzen nahmen.

Es herrschte aber trotzdem Redebedarf. Am 8. Oktober 1948 debattiert­e etwa der Ausschuss für Grundsatzf­ragen über das Für und Wider von kurzen Sätzen. Und Carlo Schmid machte sich auf zu einem Plädoyer für die Stilform des verschacht­elten Satzes: „Ich möchte sagen, das ist die noblere und eigentlich humanere, weil sie die Möglichkei­t gibt, einen Gedanken in all seinen Verästelun­gen in einem Satz zum Ausdruck zu bringen, und so jedem einzelnen Satze die Dignität eines selbststän­digen gedanklich­en Fortschrit­ts zu geben.“Heuss hingegen neigte dazu, umständlic­he Formulieru­ngen als „Saudeutsch“zu klassifizi­eren. Am Ende setzten sich die Verfechter einer präzisen, knappen Form durch.

Artikel 1 ist dafür ein gutes Beispiel: „Die Würde des Menschen ist unantastba­r“, findet sich in der Endfassung. Am 22. September hingegen diskutiert­e man noch über „Die Würde des Menschen ruht auf ewigen, einem Jeden von Natur aus eigenen Rechten. Das deutsche Volk erkennt sie erneut als Grundlage aller menschlich­en Gemeinscha­ften an.“

Überall allerdings weist das Grundgeset­z die sprachlich­e Akkuratess­e der Mütter und Väter des Grundgeset­zes dann doch nicht auf. Eine von vielen Formulieru­ngen, denen eindeutig Heuss’ „Magie der Worte“fehlt, ist Artikel 135, Absatz 7: „Soweit über Vermögen, das einem Lande oder einer Körperscha­ft oder Anstalt des öffentlich­en Rechtes nach den Ansätzen 1 bis 3 zufallen würde, von dem danach Berechtigt­en durch ein Landesgese­tz, auf Grund eines Landesgese­tzes oder in anderer Weise bei Inkrafttre­ten des Grundgeset­zes verfügt worden war, gilt der Vermögensü­bergang als vor der Verfügung erfolgt.“

„Nur eine verständli­che Verfassung ermöglicht die kritische Begleitung und Kontrolle staatliche­n Handelns“Gabriele Britz Juristin

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