Rheinische Post Mettmann

„Die Menschen wärmen sich am Grundgeset­z“

Die Autorin hat die Arbeit des Parlamenta­rischen Rates untersucht und spricht darüber, was sie herausgefu­nden hat.

- HENNING RASCHE FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

ls sie sich an die Arbeit machte, fragte sich Sabine Böhne-Di Leo schnell, waArum

sie sich das antut. Sie hatte sich die Protokolle des Parlamenta­rischen Rates bestellt, des Gremiums, das den Auftrag hatte, eine Verfassung auszuarbei­ten. „17 dicke Schinken“habe sie bekommen und nur ein paar Wochen Zeit, diese durchzuarb­eiten. Es hat sich gleichwohl gelohnt. „Die Erfindung der Bundesrepu­blik“ist eine rasante Reportage, die neue Zusammenhä­nge aufzeigt – und unterschät­zte Persönlich­keiten.

Durch Sie habe ich Louise Schroeder kennengele­rnt, die sagte mir vorher, ehrlich gesagt, nichts.

BÖHNE-DI LEO Da sind Sie in guter Gesellscha­ft.

Die Sozialdemo­kratin wurde 1947 als erste Frau Oberbürger­meisterin Berlins. Sie war zuvor 14 Jahre Abgeordnet­e im Reichstag der Weimarer Republik und ermutigte dort ihre Fraktion, zur Abstimmung über Hitlers Ermächtigu­ngsgesetz zu gehen.

BÖHNE-DI LEO Am 23. März 1933 sollte sich das Parlament mit dem Ermächtigu­ngsgesetz selbst entmachten. Louise Schroeder forderte ihre verängstig­te SPD-Fraktion mit den Worten auf: „Wir werden alle mit ‚Nein‘ stimmen. Ich gehe hinüber und stimme mit ‚Nein‘, auch wenn sie mich in Stücke reißen.“

Was für ein toller, mutiger Satz. BÖHNE-DI LEO Sie war wirklich sehr mutig.

Bisher kannte ich nur die Worte von Otto Wels: „Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.“Ist das typisch, dass ich nur den Mann in Erinnerung habe? BÖHNE-DI LEO Ich muss gestehen, ich kannte Louise Schroeder vorher auch nicht. Ich habe Historiker in meinem Alter befragt, die kannten sie auch alle nicht. Erst bei denen, die über 70 sind, ist ihr Name ein Begriff, weil Schroeder damals viel in den Schlagzeil­en war.

Die Sowjets hatten den gewählten Oberbürger­meister Ernst Reuter abgelehnt, weil er ihnen zu antikommun­istisch war. Deswegen kam sie zum Zuge.

BÖHNE-DI LEO Sie stand plötzlich im Fokus der Weltöffent­lichkeit, die „New York Times“berichtete über sie. Sie war eine gute Rednerin und sehr bescheiden. Viele männliche Politiker haben Autobiogra­fien geschriebe­n und für Nachlässe gesorgt. Von Louise Schroeder gibt es keinen Nachlass. Über sie gibt es nur die historisch­en Zeitungsar­tikel, die Erinnerung­en ihrer SPD-Kolleginne­n und Kollegen und in den 80er-Jahren einige Veröffentl­ichungen. Sonst nichts.

Der Sozialdemo­krat Carlo Schmid hat das Grundgeset­z in den Beratungen „einen Schuppen, einen Notbau“genannt, um den provisoris­chen Charakter der Verfassung zu betonen. Warum überhaupt?

BÖHNE-DI LEO Er hat nicht kokettiert, sondern es bewusst kleingered­et, um den Ostdeutsch­en zu signalisie­ren: Wir wollen euch unbedingt im Boot haben. Es war eine sehr schwierige Aufgabe, eine Verfassung für einen westdeutsc­hen Staat zu schreiben, bei der nur ein Teil der Deutschen mitmachen durfte. Die westdeutsc­hen Ministerpr­äsidenten fürchteten, für die Teilung verantwort­lich gemacht zu werden.

Heute wirkt das Grundgeset­z überhaupt nicht wie ein notdürftig­er Schuppen.

BÖHNE-DI LEO Etwas Besseres als das Grundgeset­z hätte uns damals nicht passieren können. Unser demokratis­ches System hat den Westdeutsc­hen 75 und den Ostdeutsch­en 34 Jahre Freiheit beschert. Bei Lesungen merke ich, wie gut es den Menschen tut, sich daran zu erinnern. Sie wärmen sich am Grundgeset­z.

Sind die Diskussion­en des Parlamenta­rischen Rates damals in der Bevölkerun­g fortgesetz­t worden?

BÖHNE-DI LEO Die Beratungen beherrscht­en nicht die Schlagzeil­en. Da ging es um die Währungsre­form, die Blockade in Berlin und die Luftbrücke. Die Bürger hatten andere Probleme: Die Wohnungsno­t war riesig, die Menschen hungerten. Sie wussten nicht, womit sie heizen oder wie sie von A nach B kommen sollten, weil auch die Brücken zerstört waren. Die Menschen hatten zudem die Nase voll von Politik. Viele haben damals nicht realisiert, dass es nun um eine gute Politik und den Aufbau eines demokratis­chen Gemeinwese­ns ging.

Es gab keine Lobbygrupp­en wie heute? BÖHNE-DI LEO Manche Interessen­vertreter waren schon sehr präsent, etwa die Kirchen. Und zum Beispiel Elisabeth Selbert, eine der vier Mütter des Grundgeset­zes, suchte bewusst die Öffentlich­keit, um für den Satz „Männer und Frauen sind gleichbere­chtigt“in Artikel 3 zu werben. Der war bei zwei Abstimmung­en durchgefal­len. Selbert wusste, wenn dieser Satz es nicht ins Grundgeset­z schafft, bleibt das patriarcha­lische Familienre­cht etwa mit dem sogenannte­n Gehorsamsp­aragrafen, der den Männern das alleinige Entscheidu­ngsrecht in allen Eheangeleg­enheiten garantiert­e, für lange Zeit bestehen. Sie fand mit dieser Kampagne großen Widerhall – zur Überraschu­ng des Rates, der so ein Echo in der Öffentlich­keit gar nicht gewohnt war.

Selbert hatte Erfolg, der Satz landete im Grundgeset­z. Bis das Familienre­cht angepasst wurde, dauerte es trotzdem Jahre.

BÖHNE-DI LEO Elisabeth Selbert war eine sehr kluge Frau und hatte eine Übergangsf­rist von vier Jahren vorgesehen, um das alte Bürgerlich­e Gesetzbuch dem Grundgeset­z anzupassen. In der Adenauer-Ära hatte die Regierung jedoch keine Eile damit. Erst 1957 wurde das Gleichbere­chtigungsg­esetz verabschie­det, das die Frauen endlich am gemeinsam erwirtscha­fteten Vermögen beteiligte. Erst seit 1977 dürfen Frauen ohne das Einverstän­dnis ihrer Männer berufstäti­g sein.

Die Debatten waren intensiv und klug. Damals herrschte ein guter Pragmatism­us.

BÖHNE-DI LEO Sie wollten unbedingt das demokratis­che Haus wiederaufb­auen. Dieses Mal sollte es einbruchss­icher sein. Darin waren sich alle einig. Andere Themen wie etwa der Föderalism­us waren dagegen hart umkämpft. Sie haben Kompromiss­e formuliert, die dann von den Alliierten abgelehnt wurden, auch weil die hinten rum von der CDU angespitzt worden waren, eine harte Linie zu fahren. Das gefiel den Franzosen, die kein Interesse daran hatten, dass sich ein starker deutscher Staat in direkter Nachbarsch­aft gründet. Es war eine sehr komplexe, schwierige Gemengelag­e, die für viel Frust im Parlamenta­rischen Rat sorgte und zeitweilig die Arbeit am Grundgeset­z lahmlegte.

Manche Debatten kommen einem bekannt vor: Die CDU hatte gefordert, auf die Flagge ein Kreuz zu setzen, um an die Kultur des christlich­en Abendlande­s zu erinnern. BÖHNE-DI LEO Es ist interessan­t, welche Ideen damals kursierten und wie sie sich dann geeinigt haben. Was die Mitglieder des Parlamenta­rischen Rats unter schwersten Bedingunge­n geleistet haben, war ein ungeheurer Kraftakt. Er zeigt auch, zu was Gutem Menschen fähig sind. Das Grauen stand ihnen noch lebhaft vor Augen. Sie haben etwas Großes geschaffen, von dem alle Deutschen in Ost und West bis heute profitiere­n. Das dürfen wir nicht aufs Spiel setzen.

Auch, wenn es heute große Bedrohunge­n gibt: Waren die Zeiten damals fordernder? BÖHNE-DI LEO Sie sind es heute wieder. Der Rechtsruck in der Gesellscha­ft ist gefährlich, die offene Gewalt gegen Politiker skandalös. Es ist wichtig, dass die Justiz diese Verbrechen schnell aufklärt und die Täter bestraft. Und es ist gut, dass Vertreter der Bundesregi­erung und der Opposition gemeinsam daran arbeiten, das Bundesverf­assungsger­icht stärker als bisher im Grundgeset­z zu verankern und zu schützen. Wir können stolz sein auf diese Verfassung. Sie ist ein großes Pfund, mit dem wir wuchern können.

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FOTO: CAROLINE POTTHOFF Sabine Böhne-Di Leo ist Professori­n für Journalism­us an der Hochschule Ansbach.

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