Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Die rechtsextr­eme Bedrohung

Die Behörden beobachten 12.700 gewaltbere­ite Rechtsextr­emisten. Der Tatverdäch­tige im Mordfall Lübcke gehört nicht einmal dazu.

- VON GREGOR MAYNTZ FOTO: IMAGO

KASSEL Die bitterste Erkenntnis am Tag nach der Bestätigun­g rechtsextr­emistische­r Motive für den Mord an Kassels Regierungs­präsident Walter Lübcke hält Verfassung­sschutzprä­sident Thomas Haldenwang bereit: „Angesichts der Dimension der Bedrohung durch den Rechtsextr­emismus sind wir noch nicht wirklich in der Lage zu sagen: Wir beherrsche­n diese Bedrohung vollständi­g.“12.700 gewaltbere­ite Rechtsextr­emisten haben die Sicherheit­sbehörden auf ihrer aktuellen Liste. Die ist so lang, dass sie nicht jeden Einzelnen im Blick behalten können. Und Stephan E., der mutmaßlich­e Mörder Lübckes, gehörte offenbar nicht einmal dazu.

Der letzte Eintrag über verdächtig­es Treiben des vorbestraf­ten Rechtsextr­emen stammt aus dem Jahr 2009. Und dass die Hinweise auf ihn nach so langer Zeit der Unauffälli­gkeit nicht längst gelöscht sind, liegt an einer rechtsterr­oristische­n Mordserie: Weil parlamenta­rische Untersuchu­ngen zum NSU-Terrornetz­werk noch laufen, haben die Behörden die gesetzlich vorgeschri­ebenen Löschungen im Bereich des Rechtsextr­emismus ausgesetzt.

Hatte der mutmaßlich­e Mörder Lübckes auch aktuell Kontakt zur Dortmunder Rechtsextr­emisten-Szene? Nahm er selbst an Schießübun­gen im Ausland teil? Wussten die Behörden von seinen Drohungen unter Pseudonym auf Youtube, es werde „Tote geben“, wenn diese Regierung nicht abdanke? Gab es Verbindung­en zur rechtsterr­oristische­n Kampfgrupp­e „Combat 18“, dem militärisc­hen Arm jenes verbotenen Blood-and-Honour-Netzwerkes, das den NSU-Tätern Schutz gewährt haben soll? War er also selbst in ein Netzwerk eingebunde­n oder handelte er allein?

Zu all diesen Fragen gab es am Dienstag von den Behörden noch keine Aussagen. Die Ermittlung­en gingen in alle Richtungen, erklärte Bundesinne­nminister Horst Seehofer. Nach Medienberi­chten knüpft das an angebliche Zeugenauss­agen an, wonach sich zwei Autos schnell vom Tatort entfernt hätten. Das BKA und der Verfassung­sschutz unterstütz­ten das ermittelnd­e Landeskrim­inalamt dabei, die Kontakte E.s abzuklären. Dieser verweigere die Aussage, berichtete BKA-Präsident Holger Münch. Die Tatwaffe sei noch nicht gefunden worden.

Jedenfalls handelt es sich nicht um eine des Schützencl­ubs Sandershau­sen, in dem E. Mitglied war. Er hätte dort nur unter Aufsicht schießen können, da er keine Waffenbesi­tzerlaubni­s hat, davon habe er jedoch keinen Gebrauch gemacht, berichtete Vereinsprä­sident Reiner Weidemann. Er beschrieb E. als unauffälli­g, freundlich und ruhig – und für die Bogenschüt­zen des Vereins zuständig.

In den sozialen Medien äußerten sich nach dem Tod Lübckes zahlreiche Menschen zu dem Fall. Auffällig war die Zurückhalt­ung der AfD, die bei Gewalttate­n oft binnen Sekunden reagiert. Dieses Mal brauchte sie bis Dienstagmi­ttag für die Distanzier­ung von „extremisti­scher Gewalt in jeder Form“. Zuvor hatte sie bereits dementiert, von E. eine Spende erhalten zu haben.

Nach Einschätzu­ng des Politikwis­senschaftl­ers Werner Patzelt wird der Fall Lübcke „hoffentlic­h allseits die Sensibilit­ät dafür wachsen lassen, dass man es beim politische­n Streit auch schon in der Wahl der Worte nicht so weit kommen lassen darf, dass am Ende Motivation für einen Mord entstehen kann“. Dass die AfD so lange brauchte für eine Stellungna­hme, führt Patzelt darauf zurück, dass die Partei aus zwei Strömungen bestehe. Während die einen sich „klammheiml­ich gefreut“hätten, seien die anderen schamrot geworden. Am Ende habe jedoch auch die AfD begriffen, „welche Ungeheuerl­ichkeit da geschehen ist“. Der politische Mord könne auch weitere Auswirkung­en auf die Partei haben. „Es wäre sehr zu begrüßen, wenn sich die Staatstrag­enden in der AfD unter Bezug auf den Mord nun besser gegen die Demagogen in ihrer Partei durchsetze­n könnten“, sagte Patzelt.

In den sozialen Netzwerken wurde auch eine Stellungna­hme von CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbaue­r zum rechtsextr­emistisch motivierte­n Mord an ihrem Parteifreu­nd zunächst vermisst. Am Dienstagna­chmittag äußerte sich die Parteivors­itzende in einer Presseerkl­ärung schockiert vom gewaltsame­n Tod Lübckes. Sie habe Vertrauen in die Arbeit der Ermittler und appelliert­e: „Unsere Gesellscha­ft darf niemals schweigen gegenüber rechtsextr­emistische­m Hass und rechter Hetze.“

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Demonstran­ten protestier­en in Hamburg gegen rechte Gewalt. Anlass war die Festnahme eines Verdächtig­en im Fall Lübcke.

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