Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Der Humanist mit der Kamera
Der deutsche Buchhandel ehrt den brasilianischen Fotografen und Umweltaktivisten Sebastiao Salgado mit dem Friedenspreis.
FRANKFURT/ M. Die Menschen tragen triefende Bündel auf den Schultern. Ihre Körper sind verkrustet von Lehm, ihre Gesichter gezeichnet vom Kampf ums Überleben, und sie steigen in endlosen Kolonnen selbst gezimmerte Aufgänge hinauf, die aussehen wie Himmelsleitern. Dabei ragen sie aus der Hölle.
In den 1980er Jahren porträtierte der brasilianische Fotograf Sebastiao Salgado Arbeiter in einer der größten Goldminen der Welt, in der Serra Pelada in Brasilien. Seine Bilder zeigen Menschen, die für einen Hungerlohn ihr Leben riskieren und sich aus Not eingefügt haben in einen von Gewalt regierten menschlichen Ameisenstaat in einem gigantischen Matschkrater. Die Fotos zeigen, was Not aus Menschen macht. Sie zeigen die Ausbeutung von Kreatur und Natur. Sie blicken im wahrsten Sinne in einen Abgrund, und sie haben einen Fotografen berühmt gemacht, der Elend nicht nur ablichtet, sondern in seinen Bildern den Kummer über die Verhältnisse mittransportiert.
Sebastiao Salgado ist ein Humanist, die Kamera sein Werkzeug. Er hat sich tief in die Wirklichkeit der Ausgestoßenen auf dem Planeten vorgewagt, er hat der Welt gezeigt, was Ausbeutung bedeutet, was Kriege anrichten, was Menschen einander antun – und fast wäre er selbst daran zugrunde gegangen. Nach einer Fotoserie, die er in Ruanda machte, wurde er krank am ganzen Körper. Er hatte so viele Tote gesehen, dass der Tod in ihm selbst saß, sagte er einmal. Um sich zu retten, rührte er die Kamera erst einmal nicht mehr an. Doch Salgado hat sich geheilt, indem er zum Umweltaktivisten wurde, zu einem, der Bäume pflanzt, um der Versteppung des Regenwaldes etwas entgegenzusetzen. Der Stiftungsrat des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels hat im Geist unserer Zeit entschieden, indem er einen sozial engagierten Fotografen und erfolgreichen Umweltaktivisten mit dem Friedenspreis auszeichnet. Damit wird diesjährig zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse kein Autor, kein Politiker oder Philosoph geehrt, sondern ein Künstler, dessen Werk in der Sprache der Bilder, die immer wichtiger wird, in die Gesellschaft wirkt.
Mit seinen Fotografien fordere Salgado soziale Gerechtigkeit und Frieden und verleihe der weltweit geführten Debatte um Natur- und Klimaschutz Dringlichkeit, sagte Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins zur Begründung. Der Buchhandel würdigt also einen Menschen, der die Versehrtheit des Planeten erst erkundet hat, dann aber dagegen aktiv geworden ist. Salgado hat auf der Farm seiner Eltern im brasilianischen Regenwald erlebt, wie Gewinnstreben ein Paradies zerstört hat. Und genau dort hat er mit der Aufforstung begonnen, hat Geld, das er mit seinen Fotos verdient, in die Natur investiert. 2,5 Millionen Bäume musste er pflanzen, um aus dem Paradies seiner Kindheit wieder einen lebenswerten Ort zu machen. Heute ist die Farm seiner Eltern ein Nationalpark. Salgados wiederbelebtes Tal ist ein winziger Punkt verglichen mit dem Ausmaß der Zerstörung des brasilianischen Regenwaldes. Aber es ist ein Anfang, ein Zeichen dafür, dass Menschen wirken und verändern können, wenn sie beginnen, anders zu denken.
Salgado ist ein Linker. Er hat mit seiner Frau, der Architektin Lélia Wanick, in seiner Jugend gegen die Militärdiktatur in seiner Heimat gekämpft und musste nach Frankreich emigrieren. In Paris hat er Ökonomie studiert, promoviert, hat zunächst auch in der Wirtschaft gearbeitet und mit der Weltbank unter anderem Reisen nach Afrika unternommen. Doch dann nahm er die Leica seiner Frau in die Hand und machte sein erstes Bild – von ihr. Bald war er so fasziniert von diesem Medium, dass er seine sichere Existenz aufgab und in die Welt hinauszog. Die Fotografie sei wie eine Invasion in sein Leben getreten, hat er mal gesagt. Und dass er in der Fotografie gelebt habe. Sein Medium ergriff sein ganzes Leben.
Wenn Salgado hungernde Menschen in der Sahel-Zone zeigt oder im zweiten Golfkrieg Löscharbeiter auf den brennenden Ölfeldern von Kuwait begleitet, dann geschieht das nicht aus sicherer Entfernung. Er ist bei den Menschen. Und er fühlt mit ihnen. Seine Bilder sind immer auch eine Anklage der Verhältnisse.
Allerdings sind seine Bilder so schön, so perfekt komponiert und so dramatisch in der Lichtgestaltung, dass man Salgado auch die Ästhetisierung des Elends vorgeworfen hat. Tatsächlich hat es etwas Malerisches, wenn er eine Frau in der Sahel-Zone zeigt, die mit wehenden Gewändern durch die Wüste läuft, ein abgemagertes Kind mit Hungerbauch an der Hand. Doch sorgt die Perfektion dieser Fotografie wohl kaum dafür, dass der Betrachter das Elend nicht ernstnimmt. Vielmehr ragen Salgados Arbeiten so hervor, dass man manche seiner Aufnahmen nicht mehr vergisst. So hat er Ausbeutung, Ungerechtigkeit, Gewalt, Barbarei das Abstrakte genommen, hat sie ins Bild gerückt und in das Gedächtnis der Betrachter eingeschrieben. Unauslöschlich.
Und dann hat Salgado nach der Zeit der Erholung von der Fotografie doch wieder zur Kamera gegriffen und acht Jahre an seinem Zyklus „Genesis“gearbeitet. Dazu ist er rund um den Globus gereist zu Fuß, in Booten, auch mal in einem Fesselballon, und hat die Schönheit der Erde festgehalten. 450 schwarzweiß Aufnahmen von Landschaften, Tieren, Pflanzen, Menschen sind entstanden, und manche sind zum weinen schön. Salgado war fast irre geworden an dem einen Tier, das er erkundet hat, am Menschen, der zu größter Brutalität fähig ist. In „Genesis“hat er seinen Fokus erweitert, blickt nun auf den Menschen in der Natur und zwar mit den Mitteln der Zartheit und des Bombastes. Salgado will überwältigen mit der Schönheit der Erde, weil er sie retten will. So ist aus dem sozialkritischen Krisenfotografen ein Umweltaktivist und Betrachter irdischer Schönheit geworden. Sein Pathos ist sein Werkzeug. Eine heilere Welt sein Ziel.