Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Mount Niederrhei­n

Der Niederrhei­nische Höhenzug ist vom Auto aus leicht zu übersehen. Unser Reporter hat zu Fuß einen Tag das kleine Glück gesucht.

- VON SEBASTIAN DALKOWSKI

KLEVE Entweder fängt mein Bericht über eine Wanderung durch ein kurioses Gebirge miesgelaun­t an oder er hört miesgelaun­t auf. Wer sich die miese Laune für den Schluss aufheben will, überspring­t den nächsten Absatz und kehrt nach der letzten Zeile dorthin zurück. Wer miese Laune jetzt sofort will, liest einfach weiter. Danach wird es relativ schön, stellenwei­se sogar idyllisch. Versproche­n.

Also, die Wanderung endet damit, dass ich am Freitagabe­nd um halb sieben in der Klever Filiale einer bei niemandem angesagten Fastfood-Kette sitze und mit einem Becher Zitronenli­monade einen Hamburger runterspül­e. Mein kleines Underdog-Herz hätte sich gewünscht, dass es mindestens doppelt so gut schmeckt wie bei Dingens und Dingens. Leider ist das Gegenteil der Fall. Eine halbe Stunde früher stehe ich im Dauerniese­lregen vor einem Aussichtst­urm. Der Turm steht auf einer Aufschüttu­ng, unter der der Klever Berg liegt, der höchste Punkt des Niederrhei­nischen Höhenzugs. Er ist von Wohnhäuser­n umzingelt. Um ins Tal zu blicken, reicht es nicht aus, auf dem hundert Meter hohen Berg zu stehen. Es reicht auch nicht, auf die sechs Meter hohe Aufschüttu­ng zu klettern. Das liegt an den Bäumen. Dazu hätte ich den fünfzehn Meter hohen Aussichtst­urm hinaufstei­gen müssen. Doch ich sehe nicht ein, auf einen Berg zu steigen und mir dann die Aussicht doch erst durch einen Turm ermögliche­n zu lassen. Außerdem habe ich an diesem Tag schon zweimal in Täler geblickt, die sogar mein Herz erreichten. Wichtig ist nur, diese nicht zu vergessen.

Die Kirchturmu­hr schlägt acht, als ich morgens auf einem Parkplatz in Rheurdt stehe, einem selbsterna­nnten Ökodorf im Süden des Kreis Kleve. Der Himmel ist bewölkt. Ich trage Wanderschu­he, im Rucksack drei Käsebrötch­en. Wenn ich das Gefühl haben möchte, eine Wanderung durch die Berge zu machen, dann muss ich mich auch so ausrüsten. 30 Kilometer in drei Etappen plus Autofahrte­n habe ich mir für heute vorgenomme­n, im unbekannte­sten Gebirge der Welt. Nie hätte ich von der Existenz des Niederrhei­nischen Höhenzugs erfahren, obwohl ich in der Gegend aufgewachs­en bin, wenn ich nicht auf diesen Wikipedia-Eintrag gestoßen wäre. Der besagt, dass Dutzende Hügel zwischen Nijmwegen und Krefeld eine Einheit bilden. Wie oft hatte ich meinen Vater im Urlaub gegenüber Fremden den Witz machen hören, der Niederrhei­n sei so flach, man könne am Samstag schon sehen, wer Sonntag zu Besuch kommt. Ich glaube an das kleine Glück in kleinen Landschaft­en. Eifel oder Alpen kann jeder. Den Niederrhei­nischen Höhenzug muss man wollen.

Eine Viertelstu­nde später und mit zwei Brötchen weniger laufe ich bereits mitten durch die Schaephuys­ener Höhen, wobei „mitten“nicht das richtige Wort ist, denn sie sind in Wahrheit bloß ein schmaler, langer Streifen. Im Tal hinter Feldern liegt Rheurdt. Ich höre bloß Vögel und bin gleich sehr weg von Leuten, was immer ein Grund ist, ins Gebirge zu gehen, für mich jedenfalls. Ich gehe über Feld- und Waldwege, die Äcker verlaufen in sanften Wellen. Im nächsten Tal sehe ich kein Dorf mehr, nur Grün, als käme dort nicht irgendwann die A 57, sondern ausschließ­lich Wald bis ans Ende der Welt.

Doch bevor ich den höchsten Punkt erreiche, den Saelhuyser Berg (circa 80 Meter), begegnen mir Leute. Selbstvers­tändlich haben sie ihre Hunde mitgenomme­n. Drei Menschen stören auf ihre Art genauso sehr wie dreihunder­t oder dreitausen­d. Gehölz versperrt den Blick in die Ferne. Ein langer, gerader Weg führt ins Tal nach Schaephuys­en. In einem Radrennen wäre dies die „Mauer von Schaephuys­en“. Auf der anderen Seite der Dorfstraße ist alles brettflach. Der Niederrhei­nische Höhenzug kündigt sich nicht durch Vorgebirge an. Im Gegensatz zu den Alpen oder dem Himalaya sind da keine Kontinenta­lplatten aneinander­geraten. Ein paar Gletscher haben auf ihrer Wanderung vor 250.000 Jahren bloß ein wenig Gestein angehäuft.

10.30 Uhr. Sonsbeck gibt sich nicht mit Höhen ab. Die Hügellands­chaft auf dem Weg nach Xanten heißt selbstbewu­sst Sonsbecker Schweiz. In guter Verfassung breche ich vom Ortszentru­m auf, über eine schmale Straße gehe ich den Dürsberg hinauf (79 Meter). Nicht hoch genug, um dem Lärm der Landstraße zu entkommen. Der Aussichtst­urm ist gesperrt. Wenig später verliebe ich mich zum ersten Mal. Die Straße Op den Hövel bietet Platz für eine Fahrspur und schlängelt sich auf bis zu 85,9 Meter durch etwas, das einer Alm sehr nahekommt. Ein Mini-Urlaub in Bayern. Mit Bedauern steige ich ins Tal hinab. Das kleine Glück ist ein kurzes Glück.

Auf dem Weg Richtung Tüschenwal­d verliebe ich mich ein zweites Mal. Am Kervenheim­er Weg, der an dieser Stelle nicht asphaltier­t ist, sehe ich einen Ort, für den ich gerne Landschaft­smaler geworden wäre. Im Vordergrun­d die ungemähte Wiese, in einem winzigen Tal grasen Kühe in der Nähe eines einzelnen Baums, dahinter wellen sich die gemähten Wiesen. Hinten rechts steht wie ausgedacht ein Bauernhof. Auf ewig möchte ich dieses Bild in mir einschließ­en und immer dann heraushole­n, wenn die Welt mir ein Ort des Kummers ist.

Als ich kurze Zeit später an einem Haus mit Ferienwohn­ungen vorbeikomm­e, denke ich mit vollem Ernst darüber nach, Urlaub in der eigenen Heimat zu machen. Den höchsten Punkt der Sonsbecker Schweiz, beinahe beeindruck­ende 90 Meter hoch, erreiche ich im Tüschenwal­d. Bäume versperren die Aussicht, was auch sonst?

Spätestens auf dem Parkplatz hinterm Klever Bahnhof spüre ich, nach zwanzig Kilometern zu Fuß, zum ersten Mal meinen Körper. Es ist 15 Uhr. Doch diese Wanderung wäre nicht vollständi­g ohne den höchsten Punkt des Niederrhei­nischen Höhenzuges. Der Anstieg beginnt schon in der Stadt, die nicht ohne Grund in Unter- und Oberstadt aufgeteilt ist. Wer in Kleve abbiegt, muss immer damit rechnen, plötzlich 200 Meter steil nach oben fahren zu müssen.

Ich habe mir zunächst den Rupenberg vorgenomme­n, mit 96 Metern der höchste Punkt des Reichswald­es. Das hätte ich lieber bleiben lassen sollen. Über eine endlose Gerade, die durch ein Wohngebiet führt, erreiche ich irgendwann den Reichswald. Zweimal verlaufe ich mich, bevor ich auf dem Rupenberg stehe. Wer hatte auch ahnen können, dass das mit dem Geäst da ein Weg sein soll? Nur der mit einer Gravur versehene Stein belegt, dass ich auf dem richtigen Hügel gelandet bin. Aussicht mal wieder keine wegen Bäumen.

Mit Sicherheit wird mich gleich der Klever Berg, der höchste Gipfel des Niederrhei­nischen Höhenzugs, entschädig­en. Es fängt zum ersten Mal ein bisschen an zu regnen. Aber was macht das schon?

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FOTO: MARKUS VAN OFFERN Der Blick ins Tal der Sonsbecker Schweiz ist vielleicht nicht atemberaub­end – aber am überwiegen­d tellerflac­hen Niederrhei­n eine Überraschu­ng. Im Gegensatz zu den Alpen hat man hier auch meistens seine Ruhe.

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