Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Mount Niederrhein
Der Niederrheinische Höhenzug ist vom Auto aus leicht zu übersehen. Unser Reporter hat zu Fuß einen Tag das kleine Glück gesucht.
KLEVE Entweder fängt mein Bericht über eine Wanderung durch ein kurioses Gebirge miesgelaunt an oder er hört miesgelaunt auf. Wer sich die miese Laune für den Schluss aufheben will, überspringt den nächsten Absatz und kehrt nach der letzten Zeile dorthin zurück. Wer miese Laune jetzt sofort will, liest einfach weiter. Danach wird es relativ schön, stellenweise sogar idyllisch. Versprochen.
Also, die Wanderung endet damit, dass ich am Freitagabend um halb sieben in der Klever Filiale einer bei niemandem angesagten Fastfood-Kette sitze und mit einem Becher Zitronenlimonade einen Hamburger runterspüle. Mein kleines Underdog-Herz hätte sich gewünscht, dass es mindestens doppelt so gut schmeckt wie bei Dingens und Dingens. Leider ist das Gegenteil der Fall. Eine halbe Stunde früher stehe ich im Dauernieselregen vor einem Aussichtsturm. Der Turm steht auf einer Aufschüttung, unter der der Klever Berg liegt, der höchste Punkt des Niederrheinischen Höhenzugs. Er ist von Wohnhäusern umzingelt. Um ins Tal zu blicken, reicht es nicht aus, auf dem hundert Meter hohen Berg zu stehen. Es reicht auch nicht, auf die sechs Meter hohe Aufschüttung zu klettern. Das liegt an den Bäumen. Dazu hätte ich den fünfzehn Meter hohen Aussichtsturm hinaufsteigen müssen. Doch ich sehe nicht ein, auf einen Berg zu steigen und mir dann die Aussicht doch erst durch einen Turm ermöglichen zu lassen. Außerdem habe ich an diesem Tag schon zweimal in Täler geblickt, die sogar mein Herz erreichten. Wichtig ist nur, diese nicht zu vergessen.
Die Kirchturmuhr schlägt acht, als ich morgens auf einem Parkplatz in Rheurdt stehe, einem selbsternannten Ökodorf im Süden des Kreis Kleve. Der Himmel ist bewölkt. Ich trage Wanderschuhe, im Rucksack drei Käsebrötchen. Wenn ich das Gefühl haben möchte, eine Wanderung durch die Berge zu machen, dann muss ich mich auch so ausrüsten. 30 Kilometer in drei Etappen plus Autofahrten habe ich mir für heute vorgenommen, im unbekanntesten Gebirge der Welt. Nie hätte ich von der Existenz des Niederrheinischen Höhenzugs erfahren, obwohl ich in der Gegend aufgewachsen bin, wenn ich nicht auf diesen Wikipedia-Eintrag gestoßen wäre. Der besagt, dass Dutzende Hügel zwischen Nijmwegen und Krefeld eine Einheit bilden. Wie oft hatte ich meinen Vater im Urlaub gegenüber Fremden den Witz machen hören, der Niederrhein sei so flach, man könne am Samstag schon sehen, wer Sonntag zu Besuch kommt. Ich glaube an das kleine Glück in kleinen Landschaften. Eifel oder Alpen kann jeder. Den Niederrheinischen Höhenzug muss man wollen.
Eine Viertelstunde später und mit zwei Brötchen weniger laufe ich bereits mitten durch die Schaephuysener Höhen, wobei „mitten“nicht das richtige Wort ist, denn sie sind in Wahrheit bloß ein schmaler, langer Streifen. Im Tal hinter Feldern liegt Rheurdt. Ich höre bloß Vögel und bin gleich sehr weg von Leuten, was immer ein Grund ist, ins Gebirge zu gehen, für mich jedenfalls. Ich gehe über Feld- und Waldwege, die Äcker verlaufen in sanften Wellen. Im nächsten Tal sehe ich kein Dorf mehr, nur Grün, als käme dort nicht irgendwann die A 57, sondern ausschließlich Wald bis ans Ende der Welt.
Doch bevor ich den höchsten Punkt erreiche, den Saelhuyser Berg (circa 80 Meter), begegnen mir Leute. Selbstverständlich haben sie ihre Hunde mitgenommen. Drei Menschen stören auf ihre Art genauso sehr wie dreihundert oder dreitausend. Gehölz versperrt den Blick in die Ferne. Ein langer, gerader Weg führt ins Tal nach Schaephuysen. In einem Radrennen wäre dies die „Mauer von Schaephuysen“. Auf der anderen Seite der Dorfstraße ist alles brettflach. Der Niederrheinische Höhenzug kündigt sich nicht durch Vorgebirge an. Im Gegensatz zu den Alpen oder dem Himalaya sind da keine Kontinentalplatten aneinandergeraten. Ein paar Gletscher haben auf ihrer Wanderung vor 250.000 Jahren bloß ein wenig Gestein angehäuft.
10.30 Uhr. Sonsbeck gibt sich nicht mit Höhen ab. Die Hügellandschaft auf dem Weg nach Xanten heißt selbstbewusst Sonsbecker Schweiz. In guter Verfassung breche ich vom Ortszentrum auf, über eine schmale Straße gehe ich den Dürsberg hinauf (79 Meter). Nicht hoch genug, um dem Lärm der Landstraße zu entkommen. Der Aussichtsturm ist gesperrt. Wenig später verliebe ich mich zum ersten Mal. Die Straße Op den Hövel bietet Platz für eine Fahrspur und schlängelt sich auf bis zu 85,9 Meter durch etwas, das einer Alm sehr nahekommt. Ein Mini-Urlaub in Bayern. Mit Bedauern steige ich ins Tal hinab. Das kleine Glück ist ein kurzes Glück.
Auf dem Weg Richtung Tüschenwald verliebe ich mich ein zweites Mal. Am Kervenheimer Weg, der an dieser Stelle nicht asphaltiert ist, sehe ich einen Ort, für den ich gerne Landschaftsmaler geworden wäre. Im Vordergrund die ungemähte Wiese, in einem winzigen Tal grasen Kühe in der Nähe eines einzelnen Baums, dahinter wellen sich die gemähten Wiesen. Hinten rechts steht wie ausgedacht ein Bauernhof. Auf ewig möchte ich dieses Bild in mir einschließen und immer dann herausholen, wenn die Welt mir ein Ort des Kummers ist.
Als ich kurze Zeit später an einem Haus mit Ferienwohnungen vorbeikomme, denke ich mit vollem Ernst darüber nach, Urlaub in der eigenen Heimat zu machen. Den höchsten Punkt der Sonsbecker Schweiz, beinahe beeindruckende 90 Meter hoch, erreiche ich im Tüschenwald. Bäume versperren die Aussicht, was auch sonst?
Spätestens auf dem Parkplatz hinterm Klever Bahnhof spüre ich, nach zwanzig Kilometern zu Fuß, zum ersten Mal meinen Körper. Es ist 15 Uhr. Doch diese Wanderung wäre nicht vollständig ohne den höchsten Punkt des Niederrheinischen Höhenzuges. Der Anstieg beginnt schon in der Stadt, die nicht ohne Grund in Unter- und Oberstadt aufgeteilt ist. Wer in Kleve abbiegt, muss immer damit rechnen, plötzlich 200 Meter steil nach oben fahren zu müssen.
Ich habe mir zunächst den Rupenberg vorgenommen, mit 96 Metern der höchste Punkt des Reichswaldes. Das hätte ich lieber bleiben lassen sollen. Über eine endlose Gerade, die durch ein Wohngebiet führt, erreiche ich irgendwann den Reichswald. Zweimal verlaufe ich mich, bevor ich auf dem Rupenberg stehe. Wer hatte auch ahnen können, dass das mit dem Geäst da ein Weg sein soll? Nur der mit einer Gravur versehene Stein belegt, dass ich auf dem richtigen Hügel gelandet bin. Aussicht mal wieder keine wegen Bäumen.
Mit Sicherheit wird mich gleich der Klever Berg, der höchste Gipfel des Niederrheinischen Höhenzugs, entschädigen. Es fängt zum ersten Mal ein bisschen an zu regnen. Aber was macht das schon?