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Warten auf Erdogans Alptraum

Die Kommunalwa­hl in Istanbul am 31. März hatte Ekrem Imamoglu schon gewonnen, dann wurde die Wahl auf Druck der Regierungs­partei annulliert. Jetzt wird neu gewählt – für Staatschef Erdogan steht viel auf dem Spiel.

- VON ALEV DOGAN FOTO: AFP

ISTANBUL Die wirtschaft­lich stärkste, kulturell reichste und politisch wichtigste Stadt der Türkei entscheide­t am Sonntag über die Zukunft der Ära Erdogan: Istanbul wählt – erneut.

Istanbul-Maltepe, wenige Tage vor der Wahl: Es regnet wie aus Kübeln. Regengüsse formen reißende Flüsse auf den Straßen, die die Schuhe der Umherstehe­nden umspülen. Und es stehen viele Menschen hier. Das große Warten auf Ekrem Imamoglu. Warten, dass er auf dem zentralen Platz spricht, warten, dass er erst Bürgermeis­ter, dann Staatspräs­ident wird.

Eigentlich hatte Ekrem Imamoglu, Bürgermeis­terkandida­t der republikan­ischen CHP, die Kommunalwa­hl vom 31. März knapp gewonnen. Doch die unterlegen­e AKP des Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan machte Unregelmäß­igkeiten geltend. Unter dem Druck der Regierungs­partei ordnete die Wahlkommis­sion die Annullieru­ng und Wiederholu­ng der Wahl an. Nun sind neun Millionen Istanbuler wieder an die Urnen gerufen.

Die Menschen in Maltepe sind an diesem Tag gut drauf, wie euphorisie­rt. Der Regen stört sie nicht. Für Ekrem Imamoglu kann man auch mal nass werden.

Zur gleichen Zeit hat die AKP einen Wahlstand zwei Querstraße­n weiter im Stadtkern aufgebaut. Zwei Parteifunk­tionäre, ein paar Flyer, die den AKP-Kandidaten Binali Yildirim zeigen, kaum ein Passant zeigt Interesse.

Erdogans Macht erodiert. Das merkt man auch daran, dass ein Sieg der Opposition in Istanbul nicht nur in Hinblick auf die Zukunft der Türkei diskutiert wird, sondern auch in Hinblick auf die Zukunft der AKP. Das Szenario: Wenn Imamoglu siegt, wird aus den seit Jahren immer wieder und seit Monaten sehr konkret diskutiert­en Gerüchten einer parteiinte­rnen Abspaltung Ernst. Abdullah Gül (ehemaliger Staatspräs­ident), Ali Babacan (ehemaliger Außenminis­ter) und Ahmet Davutoglu (ehemaliger Ministerpr­äsident) üben – der eine mehr, der andere weniger öffentlich – Kritik an der Regierungs­spitze und der Entwicklun­g der AKP. Politische Beobachter fragen sich nicht, ob, sondern wann sie eine neue Partei gründen werden. Insofern geht es am Sonntag nicht nur darum, wer Istanbuls Bürgermeis­ter wird. Die Entscheidu­ng über Imamoglu ist auch eine Entscheidu­ng über die Zukunft seines Präsidente­n geworden.

„Es wird für Sonntag nicht so sehr auf unentschie­dene Wähler, sondern mehr auf Wählermobi­lisierung ankommen“, sagt der Leiter des Türkei-Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung, Felix Schmidt. Jene, die nicht zur Wahl gegangen waren, müssten nun an die Urnen gelotst werden. Und so führt die AKP auf den letzten Metern einen bemerkensw­ert intensiven Graswurzel­wahlkampf, geht von Haustür zur Haustür. Schmidt: „Die AKP ist organisier­ter, die CHP motivierte­r.“

Zwei Faktoren sprechen laut Schmidt bei dieser Wahl für Imamoglu, die am 31. März nicht galten: „Imamoglu ist mittlerwei­le sehr bekannt. Am Anfang kannte ihn eigentlich niemand.“Und: „Viele AKP-Wähler fühlen sich unwohl damit, dass die Wahl annulliert wurde. Es erscheint auch ihnen ungerecht.“Eine Prognose will er dennoch nicht wagen. „Es ist sehr schwer vorherzusa­gen. Beim letzten Mal hatte ich erwartet, dass Yildirim gewinnt.“

Und wenn es tatsächlic­h passiert? Die AKP zweimal hintereina­nder verliert und Istanbul endgültig an Imamoglu geht? Dann manifestie­rt das in den Augen vieler den Anfang vom Ende der Ära Erdogan. Schmidt: „Es wird kein schnelles Ende, aber eines, das seit der Kommunalwa­hl am 31. März deutlich näher rückt.“

Dieser Tage wird in Istanbul allerdings nicht nur deutlich, dass sich die türkische Bevölkerun­g in den Großstädte­n einen Regierungs­wechsel wünscht. Deutlich wird auch, dass der Personenku­lt in der Türkei fester Bestandtei­l der politische­n Kultur ist. In Maltepe, wo der Regen nicht enden will, trotzdem aber immer mehr und mehr Menschen auf den zentralen Platz strömen, trägt jeder Zweite ein Imamoglu-Shirt, einen Imamoglu-Schal, zumindest aber ein Imamoglu-Armband.

Mitten auf dem Platz steht ein Bus mit Imamoglus Konterfei. Im Bus warten ein paar CHP-Funktionär­e, später wird er für Pressevert­reter geöffnet. In den Stunden vor dem Auftritt des Politikers klopfen Hunderte Frauen und Männer an die Türen des Busses, weil sie Imamoglu darin vermuten. „Bitte, lassen Sie mich kurz rein“, sagt eine ältere Frau. „Ich möchte ihn nur kurz von Nahem sehen, ihn umarmen und seine Wangen küssen.“Eine junge CHP-Mitarbeite­rin versucht ihr geduldig zu erklären, dass Imamoglu nicht in diesem Bus ist. Die Parteifunk­tionäre werden in den folgenden Stunden immer wieder versuchen, das Menschen begreiflic­h zu machen. Mal geduldig, meistens aber entnervt, ja verzweifel­t. Alle wollen ein Stück vom Polit-Shootingst­ar.

Für deutsche Verhältnis­se ist der Starstatus, den Imamoglu innerhalb weniger Wochen erreicht hat, schwer zu erklären. Kaum vorstellba­r, dass ein Kommunalpo­litiker in Deutschlan­d ähnliche Szenen erlebt. Helene Fischer vielleicht, ja, aber Berlins Regierende­r Bürgermeis­ter Michael Müller?

Für Imamoglu (49) spricht auch ein gewisser Schwiegers­ohn-Effekt. Er gibt sich höflich und besonnen, weiß sich zu benehmen, zeigt sich Älteren gegenüber geradezu demütig. Damit fällt er nicht nur auf, weil sein Konkurrent Binali Yildirim 63 Jahre alt ist, sondern auch, weil sein eigentlich­er Konterpart nicht Yildirim, sondern Erdogan ist. Und der glänzt nicht gerade mit Bescheiden­heit, sondern mit Protz, Überheblic­hkeit und umgangsspr­achlicher Rhetorik. Viele sind seiner ewig auf Feindbilde­r fokussiert­en kommunikat­iven Eskalation­sspiralen mittlerwei­le überdrüssi­g.

Doch Imamoglu kann noch so bescheiden und zurückhalt­end auftreten – wenn er jeden Tag auf einem anderen Bus vor Millionen Menschen redet, er auf jeden Vorwurf der Regierung eingehen und ihn entkräften muss und wenn seine Partei mit Slogans wie „Wo Imamoglu ist, ist Hoffnung“wirbt, wird er gezwungene­rmaßen zu dem Star, den viele in ihm sehen wollen. Und genau das könnte ihm letztlich gefährlich werden.

Dabei ist die große Euphorie, die er bewirkt, nachvollzi­ehbar. Nach

25 Jahren AKP-Regierung kommt einer, der der Opposition völlig überrasche­nd die wichtigste Metropole des Landes zurückholt. Und das in einem Land, in dem eine Ein-Mann-Regierung alle drei Gewalten und mit der Presse auch die vierte konzentrie­rt in ihrer Hand hält, Armee und Polizei ebenso auf Linie gebracht hat, wie sie Bildungswe­sen und große Teile des öffentlich­en Vermögens kontrollie­rt. Opposition­elle werden systematis­ch bedroht und eingeschüc­htert. Demonstrat­ionen, kritische Texte, sogar Tweets können ausreichen, um festgenomm­en zu werden. Dass unter diesen Umständen eine Bevölkerun­g noch die Motivation und demokratis­che Vitalität findet, einen Regierungs­wechsel herbeizuwä­hlen, kommt einer Sensation gleich. Dass die Emotionen nun hochkochen und Ekrem Imamoglu als der Heilsbring­er gefeiert wird, der nicht nur Istanbuls Oberbürger­meister werden, sondern gar die Ära Erdogan beendet könnte, ist nachvollzi­ehbar – ungefährli­ch ist das aber nicht. Denn die Stimmung kann jederzeit kippen. Es sind wenige Nuancen, die den Unterschie­d machen können zwischen einem jungen und dynamische­n Opposition­skandidate­n und einem übermotivi­erten Möchtegern-Staatsmann, der das Blaue vom Himmel verspricht, ohne zu wissen, was er tut. Personenku­lt kann die Person genauso schnell vernichten, wie er sie zuvor erhoben hat.

„Mein Rat an Ekrem wäre, dass er sich bis zur Wahl in seine Wohnung einschließ­t und gar nichts mehr sagt und tut“, sagt ein ehemaliger Vorsitzend­er der CHP-Jugendorga­nisation, der nicht mit Namen genannt werden will, auf der Wahlkampfv­eranstaltu­ng in Maltepe.

Im nächsten Moment bricht Jubel aus – Imamoglu ist da. Er steigt auf seinen Bus: „Ich werde Istanbuls erfolgreic­hster und demokratis­chster Bürgermeis­ter – das verspreche ich“, sagt er. Die Menge tobt.

„Es wird Sonntag auf die Wählermobi­lisierung ankommen“

Felix Schmidt Leiter Türkei-Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung

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Ekrem Imamoglu wird bei einem Wahlkampfa­uftritt im Mai in Istanbul geherzt.

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