Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Wenn der Computer das Urteil spricht
Die Digitalisierung verändert die Arbeit von Juristen. In den USA hilft Künstliche Intelligenz bereits bei Gerichtsurteilen, in Düsseldorf erstmal bei Verträgen.
DÜSSELDORF
Wenn es in seinem alten Leben Dinge zu erledigen gab, konnte sich Pascal Kokken auf menschliche Unterstützung verlassen. „Ich war vorher als Anwalt tätig. Dort haben die Rechtsanwaltsfachangestellten Arbeit abgefangen“, sagt Kokken. Inzwischen leitet der Jurist die Stabsstelle Recht & Compliance beim Landesverband Nordrhein des Deutschen Roten Kreuzes. Rechtsanwaltsfachangestellte helfen ihm da nicht mehr. „Das alles gibt es hier aus Kostengründen nicht“, sagt Kokken: „Also muss ich kreativ nach anderen Lösungen suchen.“
Beim DRK Nordrhein setzen sie daher seit einigen Monaten unter anderem auf Technologie des Ratinger Unternehmens Incodis – denn an Arbeit mangelt es Kokken nicht. Allein im Landesverband Nordrhein gibt es 29 Kreis- und 131 Ortsvereine. „Jede Einheit ist rechtlich selbstständig, gründet teilweise Tochtergesellschaften, ist in der Pflege aktiv, kauft Autos oder eventuell sogar Betriebsteile, etwa an Pflegeheimen“, sagt Kokken: „So entstehen erhebliche Risikoherde, die rechtlich bisher innerhalb des Roten Kreuzes kaum aufgefangen werden konnten.“
Wenn es um die Digitalisierung geht, gibt es immer wieder Befürchtungen, dass der Mensch durch Technologie ersetzt wird. Das gilt auch für Anwaltskanzleien, Rechtsabteilungen, die Justiz. Denn auch hier sorgt der technische Fortschritt für Veränderungen – wie etwa Portale wie Flightright oder Wenigermiete zeigen, die weitgehend automatisiert Ansprüche von Betroffenen prüfen und durchsetzen.
Auch beim DRK Nordrhein profitieren sie inzwischen von der Standardisierung.
„Wir setzen nun auf eine technische Lösung im Vertragsmanagement“, sagt Kokken. Im Grunde handele es sich um eine riesige Datenbank, auf die alle Kreisverbände Zugriff hätten. Verträge für einen Platz im Kindergarten oder im Pflegeheim müssen so nicht von jedem Ortsverein neu gemacht werden, sondern werden zentral verwaltet und bei Bedarf aktualisiert. „Wir haben dadurch eine fast 100-prozentige Sicherheit, dass alle neuen Verträge auf dem aktuellen Stand sind“, sagt Kokken.
Beim DRK Nordrhein ersetzt die digitale Technik bislang keine Mitarbeiter – im Gegenteil. Sie hilft trotz knappem Budget dabei, die Arbeit des Einzelnen zu verbessern. Denn auch die Kreisverbände können Verträge hochladen und von Kokken prüfen lassen: „Mein Vorgänger hat bis 2018 im Durchschnitt zwischen 50 und 100 Vorgänge im Jahr bearbeitet, durch das neue System komme ich allein bis jetzt für das Jahr 2019 schon auf 233 – und das sind nur die kritischen Fälle“, sagt der Jurist, der die Erfolge des DRK am Mittwoch auch bei einer Konferenz im eigenen Haus vorstellen wird.
Die Digitalisierung bringt viele Vorteile. Umgekehrt gibt es auch Entwicklungen, die schon jetzt ethische Fragen aufwerfen. Im US-Bundesstaat Wisconsin hilft ein Programm namens „Compas“den Richtern beispielsweise dabei, basierend auf statistischen Wahrscheinlichkeiten
das Strafmaß bei Urteilen festzulegen. Auf welcher Basis das Programm seine Entscheidungen trifft, erfährt die Öffentlichkeit allerdings nicht. Und das US-Magazin „The Verge“berichtete zuletzt, dass bei Amazon eine Künstliche Intelligenz entschieden habe, welche Mitarbeiter aufgrund mangelnder Produktivität entlassen werden – die Kündigungen hat das System anschließend direkt automatisch mit erstellt.
David Campos Pavon ist überzeugt, dass sich Anwälte bei seinem Arbeitgeber nicht so schnell ersetzen lassen. Er ist für die Themen Innovation und Datensicherheit beim Konsumgüterriesen Nestlé in der Schweiz zuständig und sagt: „Sehr
komplexe Aufgaben benötigen manuelle Arbeit.“
Nestlé arbeitet bei der Digitalisierung sowohl mit Start-ups und kleineren Firmen wie Incodis als auch mit Schwergewichten wie Thomson Reuters, SAP oder Microsoft zusammen. Durch die Digitalisierung der Arbeit hofft David Campos Pavon, bleibe man auch in Zukunft für Talente interessant als Arbeitgeber: „Es geht uns nicht nur um mehr Effizienz.“Aber darum natürlich auch, immerhin werden jedes Jahr bei Nestlé Zigtausende Verträge erstellt. Wie viele genau, das weiß nicht mal David Campos Pavon: „Wir hoffen, dass wir durch digitale Hilfsmittel mehr Transparenz über Aufwand, Menge und Zeit bekommen.“
Zu Beginn haben die Schweizer versucht, Standardprozesse zu digitalisieren – zum Beispiel beim Kauf von Kakao und Zucker. „Davon kaufen wir große Mengen, der Vorgang wiederholt sich immer wieder“, sagt der Jurist. Inzwischen laufen Pilotversuche, bei denen Verträge zu immer größeren Teilen automatisch erstellt werden. Gleichzeitig denken sie bei Nestlé auch über den Einsatz von Chat-Bots nach, die Mitarbeitern einfache Rechtsfragen beantworten könnten.
Auch Pascal Kokken denkt längst weiter: „Wir sind auch im Austausch mit anderen Landesverbänden“, sagt der DRK-Jurist: „Wir müssen natürlich dahin kommen, dass alle einheitliche Systeme nutzen – allein schon aus Kostengründen.“