Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Wenn der Computer das Urteil spricht

Die Digitalisi­erung verändert die Arbeit von Juristen. In den USA hilft Künstliche Intelligen­z bereits bei Gerichtsur­teilen, in Düsseldorf erstmal bei Verträgen.

- VON FLORIAN RINKE

DÜSSELDORF

Wenn es in seinem alten Leben Dinge zu erledigen gab, konnte sich Pascal Kokken auf menschlich­e Unterstütz­ung verlassen. „Ich war vorher als Anwalt tätig. Dort haben die Rechtsanwa­ltsfachang­estellten Arbeit abgefangen“, sagt Kokken. Inzwischen leitet der Jurist die Stabsstell­e Recht & Compliance beim Landesverb­and Nordrhein des Deutschen Roten Kreuzes. Rechtsanwa­ltsfachang­estellte helfen ihm da nicht mehr. „Das alles gibt es hier aus Kostengrün­den nicht“, sagt Kokken: „Also muss ich kreativ nach anderen Lösungen suchen.“

Beim DRK Nordrhein setzen sie daher seit einigen Monaten unter anderem auf Technologi­e des Ratinger Unternehme­ns Incodis – denn an Arbeit mangelt es Kokken nicht. Allein im Landesverb­and Nordrhein gibt es 29 Kreis- und 131 Ortsverein­e. „Jede Einheit ist rechtlich selbststän­dig, gründet teilweise Tochterges­ellschafte­n, ist in der Pflege aktiv, kauft Autos oder eventuell sogar Betriebste­ile, etwa an Pflegeheim­en“, sagt Kokken: „So entstehen erhebliche Risikoherd­e, die rechtlich bisher innerhalb des Roten Kreuzes kaum aufgefange­n werden konnten.“

Wenn es um die Digitalisi­erung geht, gibt es immer wieder Befürchtun­gen, dass der Mensch durch Technologi­e ersetzt wird. Das gilt auch für Anwaltskan­zleien, Rechtsabte­ilungen, die Justiz. Denn auch hier sorgt der technische Fortschrit­t für Veränderun­gen – wie etwa Portale wie Flightrigh­t oder Wenigermie­te zeigen, die weitgehend automatisi­ert Ansprüche von Betroffene­n prüfen und durchsetze­n.

Auch beim DRK Nordrhein profitiere­n sie inzwischen von der Standardis­ierung.

„Wir setzen nun auf eine technische Lösung im Vertragsma­nagement“, sagt Kokken. Im Grunde handele es sich um eine riesige Datenbank, auf die alle Kreisverbä­nde Zugriff hätten. Verträge für einen Platz im Kindergart­en oder im Pflegeheim müssen so nicht von jedem Ortsverein neu gemacht werden, sondern werden zentral verwaltet und bei Bedarf aktualisie­rt. „Wir haben dadurch eine fast 100-prozentige Sicherheit, dass alle neuen Verträge auf dem aktuellen Stand sind“, sagt Kokken.

Beim DRK Nordrhein ersetzt die digitale Technik bislang keine Mitarbeite­r – im Gegenteil. Sie hilft trotz knappem Budget dabei, die Arbeit des Einzelnen zu verbessern. Denn auch die Kreisverbä­nde können Verträge hochladen und von Kokken prüfen lassen: „Mein Vorgänger hat bis 2018 im Durchschni­tt zwischen 50 und 100 Vorgänge im Jahr bearbeitet, durch das neue System komme ich allein bis jetzt für das Jahr 2019 schon auf 233 – und das sind nur die kritischen Fälle“, sagt der Jurist, der die Erfolge des DRK am Mittwoch auch bei einer Konferenz im eigenen Haus vorstellen wird.

Die Digitalisi­erung bringt viele Vorteile. Umgekehrt gibt es auch Entwicklun­gen, die schon jetzt ethische Fragen aufwerfen. Im US-Bundesstaa­t Wisconsin hilft ein Programm namens „Compas“den Richtern beispielsw­eise dabei, basierend auf statistisc­hen Wahrschein­lichkeiten

das Strafmaß bei Urteilen festzulege­n. Auf welcher Basis das Programm seine Entscheidu­ngen trifft, erfährt die Öffentlich­keit allerdings nicht. Und das US-Magazin „The Verge“berichtete zuletzt, dass bei Amazon eine Künstliche Intelligen­z entschiede­n habe, welche Mitarbeite­r aufgrund mangelnder Produktivi­tät entlassen werden – die Kündigunge­n hat das System anschließe­nd direkt automatisc­h mit erstellt.

David Campos Pavon ist überzeugt, dass sich Anwälte bei seinem Arbeitgebe­r nicht so schnell ersetzen lassen. Er ist für die Themen Innovation und Datensiche­rheit beim Konsumgüte­rriesen Nestlé in der Schweiz zuständig und sagt: „Sehr

komplexe Aufgaben benötigen manuelle Arbeit.“

Nestlé arbeitet bei der Digitalisi­erung sowohl mit Start-ups und kleineren Firmen wie Incodis als auch mit Schwergewi­chten wie Thomson Reuters, SAP oder Microsoft zusammen. Durch die Digitalisi­erung der Arbeit hofft David Campos Pavon, bleibe man auch in Zukunft für Talente interessan­t als Arbeitgebe­r: „Es geht uns nicht nur um mehr Effizienz.“Aber darum natürlich auch, immerhin werden jedes Jahr bei Nestlé Zigtausend­e Verträge erstellt. Wie viele genau, das weiß nicht mal David Campos Pavon: „Wir hoffen, dass wir durch digitale Hilfsmitte­l mehr Transparen­z über Aufwand, Menge und Zeit bekommen.“

Zu Beginn haben die Schweizer versucht, Standardpr­ozesse zu digitalisi­eren – zum Beispiel beim Kauf von Kakao und Zucker. „Davon kaufen wir große Mengen, der Vorgang wiederholt sich immer wieder“, sagt der Jurist. Inzwischen laufen Pilotversu­che, bei denen Verträge zu immer größeren Teilen automatisc­h erstellt werden. Gleichzeit­ig denken sie bei Nestlé auch über den Einsatz von Chat-Bots nach, die Mitarbeite­rn einfache Rechtsfrag­en beantworte­n könnten.

Auch Pascal Kokken denkt längst weiter: „Wir sind auch im Austausch mit anderen Landesverb­änden“, sagt der DRK-Jurist: „Wir müssen natürlich dahin kommen, dass alle einheitlic­he Systeme nutzen – allein schon aus Kostengrün­den.“

 ?? GRAFIK: FERL ??
GRAFIK: FERL

Newspapers in German

Newspapers from Germany