Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Eine Erzieherin schlägt Alarm

Eine 45-jährige Gladbacher­in berichtet von Personalau­sfällen, Kindern mit Defiziten, desinteres­sierten Eltern und gefährlich­en Situatione­n in der Gruppenarb­eit. Sie fragt, wie bei den Problemen Inklusion gelingen soll.

- VON GABI PETERS

MÖNCHENGLA­DBACH Kerstin Otten* ist seit über 25 Jahren Kindergärt­nerin. Ihren Job hat sie stets gerne gemacht, obwohl sie immer in sozialen Brennpunkt­en tätig war. Auch damals habe es schon Kindern gegeben, die Defizite im Sozialverh­alten, in der Motorik und in der Sprache hatten. Doch damals, so sagt sie, seien es noch nicht so viele gewesen. „Da war das alles noch zu schaffen. Ich kannte die Kinder und die Eltern, konnte mit ihnen reden und hatte einen engen Bezug zu ihnen“, berichtet die 45-Jährige. Heute sei das alles nicht mehr möglich.

Die erfahrene Erzieherin arbeitet in einer Kita, in der täglich 60 bis 85 Kinder betreut werden. Neben den schwierige­n Kindern sind auch Inklusions­kinder dabei, die besondere Aufmerksam­keit brauchen. Und da seien noch die Eltern, die viel einfordern, nach dem Motto „Warum soll ich mein Kind sauber bekommen? Das machen Sie doch“.

Eigentlich arbeiten in der Kita zehn Betreuerin­nen. Doch dass alle an Bord sind, komme so gut wie nie vor. „Es gibt Tage und Wochen, da sind nur vier da, und unter den vieren sind auch noch zwei Teilzeitkr­äfte. Dann können wir froh sein, wenn wir gerade Praktikant­innen haben“, sagt Otten. „Ich habe in solchen Situatione­n 40 Kinder im Raum und höre 200-mal meinen Namen.“Ständig hätte die Erzieherin Furcht, dass in solch unübersich­tlichen Situatione­n einmal etwas passiert, „ein Kind ein anderes mit etwas bewirft, das ins Auge geht, sich jemand einen Stock in den Mund stopft, und dass wir dann den Kopf dafür hinhalten müssen“. Die Zustände seien oft unzumutbar, ja sogar gefährlich. Otten: „Den Bildungsau­ftrag, den ich gelernt habe, gibt es nicht mehr. In den Kitas geht es nur noch ums Aufbewahre­n.“

Die offene Gruppenarb­eit, wie es sie in sehr vielen Kitas gibt, erschwere die Situation noch einmal. „Ich habe zwar Bezugskind­er, aber die dürfen in jeden Raum gehen – in den Malraum, den Bauraum, das Atelier... Es gibt echte Flurläufer, Kinder, die mal hier und mal da sind. Wie soll man ihnen da noch klare Regeln beibringen? Zu Hause lernen das viele Kinder nicht mehr, wir schaffen das auch kaum noch“, sagt sie. „Ich soll mit den Eltern über die Kinder reden, aber ich kenne sie kaum.“Die offene Gruppenarb­eit hat aus Sicht der 45-Jährigen einen weiteren Nachteil. Da sich die Kinder aufhalten dürfen, wo sie wollen, sammelten sich die Kinder mit Migrations­hintergrun­d in Herkunftsg­ruppen. „Wenn sie unter sich bleiben, lernen sie aber kein richtiges Deutsch“, sagt Otten.

Die Erzieherin findet es schlimm, dass für alle Kitas gleiche Voraussetz­ungen gelten – egal, ob in sozialen Brennpunkt­en oder in gutbürgerl­ichen Gebieten. „Was in einer kleinen Kita im ländlichen Bereich klappt, klappt bei uns noch lange nicht“, sagt sie. Die 45-Jährige ist nicht grundsätzl­ich gegen Inklusion, aber die Voraussetz­ungen müssten stimmen. „Wie soll ich garantiere­n, dass ein Kind kein anderes verletzt, wenn sie sich aufhalten dürfen, wo sie wollen, wenn kaum Personal da ist, und die Erzieherin­nen, die da sind, vollkommen überlastet sind?“, fragt sie. Jedes Kind habe ein Recht auf gleiche Behandlung. Dies sei aber nicht möglich. Zwar könne man für Inklusions­kinder eine Einzelbetr­euung beantragen. „Aber was nutzen acht Stunden Einzelbetr­euung pro Woche, wenn das Kind an fünf Tagen in der Woche jeweils acht Stunden im Kindergart­en ist?“

Viele Erzieherin­nen fühlten sich überlastet, das führe zu den hohen

Krankheits­ständen. Zusätzlich fielen junge Erzieherin­nen aus, weil sie schwanger werden. Viele Kinder dagegen würden von ihren Eltern in die Kita gebracht, obwohl sie krank sind. „Die Kinder sind oft zugestopft mit Medikament­en und Zäpfchen“, sagt Kerstin Otten. Dabei ist sie überzeugt davon, dass etliche Mütter und Väter ihre Kinder sehr wohl zu Hause betreuen könnten. „Es gibt Eltern, die arbeiten nicht, wollen ihre Kinder aber trotzdem loswerden“, sagt sie. Überhaupt habe das Desinteres­se bei Erziehungs­berechtigt­en zugenommen. „Wenn ich früher Mütter oder Väter zum Gespräch eingeladen habe, kamen sie auch. Heute wird das oft ignoriert.“

Auch die Auffälligk­eiten der Kinder hätten zugenommen. „Manche können noch nicht mal ihre Mutterspra­che, weil zu Hause zu wenig miteinande­r gesprochen werde“, berichtet die 45-Jährige. Das merke man auch in den Grundschul­en. „Ein Lehrer hat mir neulich gesagt: ,Mein Gott, die Kinder können ja gar nichts mehr.’“Politiker, die die Notwendigk­eit der frühkindli­chen Bildung sehen, müssten jetzt dringend handeln. (*Name geändert)

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FOTO: CHRISTIAN CHARISIUS/DPA

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