Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Konnte Jesus das Leben in vollen Zügen genießen?
Der katholische Priester Wilhelm Bruners und der evangelische Pfarrer Olaf Nöller diskutierten über die Frage „Ist Genießen Sünde?“.
MÖNCHENGLADBACH Die beiden Theologen gingen der Spur nach, warum das Christentum sich angewöhnt hat, ein Jesusbild zu zeichnen, das ihm sämtliche menschlich-männlichen Regungen abspricht. Zu dem Abend im Evangelischen Gemeindezentrum Rheydt eingeladen hatte das Katholische Forum für Erwachsenen- und Familienbildung. 80 Zuhörer verfolgten die Ausführungen der beiden Kirchenvertreter.
„Hatte Jesus sexuell-erotische Gefühle? Konnte er das Leben in vollen Zügen genießen?“waren die Fragen des Abends. Der promovierte Theologe Bruners und sein Kollege und Freund Nöller sind sich einig: „Jesus hat sich nicht gescheut, die Leute anzufassen oder von ihnen angefasst zu werden.“Das war zu seinen Lebzeiten keine Selbstverständlichkeit: Jesus lebte in einer Umwelt, die sich fragte, ob ein autonomer Mensch Sex genießen darf. „Diese Thematik existiert bis heute, zumindest bei uns Älteren“, sagt der 79-jährige Bruners.
Auch noch 300 Jahre nach Jesu Geburt war die antike Philosophie stärker als die Evangelien. Gewollt war die Ataraxie, die Seelenruhe, die Emotionslosigkeit. Philosophen wie Platon und Aristoteles beeinflussten das damalige Gedankengut: „Die Seele des Menschen besitzt Vorrang, der Leib ist eine Fessel.“Auch der Philosoph Plotin lehnte alles Körperliche und Sinnliche ab. Um 400 zeigte sich der Theologe und Bischof Augustinus beeindruckt von diesem Gedankengut. „Er beeinflusst bis heute die katholisch-kirchliche Sexualmoral“, sagt Bruners, der kritisiert, dass sich die Kirche ab dem 17. Jahrhundert gegenüber den Philosophen der Aufklärung mit ihrem Ruf nach der Selbstbestimmung des Menschen abgeschlossen hat: „Stattdessen hat die Religion Ängste geschürt. Dabei ist die Botschaft der Bibel das genaue Gegenteil davon.“
In seinem Evangelium wagt der Evangelist Lukas viel. Er berichtet von einer Frau – sie wird als „Sünderin“bezeichnet – die über den Füßen Jesu weint. Sie benetzt mit ihren Tränen seine Haut, trocknet sie mit ihren Haaren. Dann küsst und salbt sie ihm die Füße. „Was hat das bei Jesus ausgelöst“, fragt sich Bruners:
„Sperrte er sich gegen Gefühle? Und wie verhält er sich der Frau gegenüber, die in dieser Szene gegen alle Konventionen handelt?“Je- sus vergibt ihr und schickt sie in Frieden fort. „Jesus bindet also die Frau nicht an sich – die Urversuchung jeder Erotik. Insofern bleibt die Begegnung eine Szene der inneren und äußeren Freiheit“, sagt Bruners. Jesus selbst, so der Theologe weiter, wird hier nicht als gefühllos und unerotisch dargestellt. Er interpretiert das Tun der Frau als Liebe und nimmt dem Geschehen damit den Giftstachel der Sünde, Unfreiheit und Abhängigkeit. Soziale Arbeit hat ihren Ursprung in der jüdisch-christlichen Tradition: Für Bruners war Jesus ein Mensch, der aktiv half, heilte, sich auf rationale Weise seinem sozialen Engagement widmete. Hierzu musste er den hochemotionalen Bereich der Familie verlassen: „Jesus bricht Kraft seines Glaubens aus allen Beziehungen aus.“