Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Das Moralin im Fleisch

- VON MORITZ DÖBLER

Eine ordentlich­e Krise dürfe man nicht verschwend­en, soll Winston Churchill gesagt haben, als es daran ging, nach dem Zweiten Weltkrieg die Vereinten Nationen zu formieren. Die Wortwahl mag zynisch klingen. Aber auch aus der Corona-Pandemie, die als größte Krise seit jener Zeit gilt, ergeben sich Chancen. Manches, was schon problemati­sch war, ist es jetzt erst recht. Oder umgekehrt, was geboten war, ist es nun noch mehr.

Die meisten hierzuland­e essen gerne regelmäßig Fleisch. Mehr als früher, dank des gewachsene­n Wohlstands und wohl auch des großen Angebots zu relativ niedrigen Preisen. Die Corona-Krise bringt mit dem Fall Tönnies ein Unbehagen über die sogenannte Erzeugung von Fleisch und dessen Verarbeitu­ng zum Vorschein, das allerdings längst da war. Dass Menschen ausgebeute­t werden, wenn die Preise so niedrig sind, ließ sich auch ohne nähere Kenntnis der Umstände ahnen. Dass Massenzuch­t und industriel­le Schlachtun­g Lebewesen zu Dingen machen, war vielfach beschriebe­n worden. Beides blieb spätestens im Supermarkt ausgeblend­et, ebenso wie all die anderen Argumente, von Antibiotik­a bis Regenwald. Das Auge isst mit, aber Steaks und Koteletts, Würsten und Aufschnitt in ihren Verpackung­en lässt sich nichts davon ansehen, allenfalls im Kleingedru­ckten des Etiketts.

Eine Doppelmora­l? Kein Mensch ist frei von Widersprüc­hen. Wer sich beim Fleisch ehrlich macht, muss sich trotzdem nicht ab sofort vegetarisc­h oder vegan ernähren. Moralin schmeckt bitter. Zur Freiheit gehört auch, über die eigene Ernährung entscheide­n zu dürfen. Aber sich ehrlich zu machen, also die eigene Rolle in dieser komplexen, mindestens in Teilen unmenschli­chen und schädliche­n Prozessket­te zu überdenken – das ist nicht zu viel verlangt, und dann würde die Krise an dieser Stelle nicht verschwend­et.

BERICHT ABGABE SOLL MEHR TIERWOHL BRINGEN, WIRTSCHAFT

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