Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich

Der amerikanis­che Makel

Seit dem Ende des Bürgerkrie­gs ist in den USA die Sklaverei verboten. Dennoch folgt ein Jahrhunder­t systematis­cher Entrechtun­g der Schwarzen – staatlich betrieben, gerichtlic­h gedeckt. Ein Verrat an den eigenen Idealen.

- VON FRANK VOLLMER

Wer die Geschichte von Jesse Washington hört, der könnte den Glauben an Amerika verlieren. Jesse Washington wurde nur 17 Jahre alt. Anfang Mai 1916 wird der Afroamerik­aner Washington, möglicherw­eise zu Recht, verdächtig­t, in Robinson, Texas, Lucy Fryer ermordet zu haben, die Frau seines Arbeitgebe­rs. Der geistig zurückgebl­iebene Washington wird nach vierminüti­ger Beratung der rein weißen Geschworen­enjury in Waco zum Tode verurteilt; als er aus dem Gerichtssa­al geführt wird, macht sich ein Mob aus mehreren Tausend Menschen über ihn her.

Washington wird an einer Kette durch die Stadt geschleift, mit Öl übergossen und an einen Baum vor dem Rathaus gehängt, unter dem ein Feuer brennt. Immer wieder wird er in die Flammen herabgelas­sen. Washington versucht, an der Kette hinaufzukl­ettern, aber man schneidet ihm die Finger ab (ebenso Zehen und Genitalien). Mehr als 10.000 Menschen sehen zu, darunter Bürgermeis­ter und Polizeiche­f. Der Sheriff weist seine Leute nicht an, die Barbarei zu stoppen. Als Washington endlich tot ist, brechen Kinder Zähne als Souvenirs aus seinem Kiefer. Ein Berufsfoto­graf verkauft Postkarten mit Bildern des Mordes. Niemand wird festgenomm­en.

Ein Fall, aber kein Einzelfall, im Gegenteil. Zwischen 1865 und 1950 wird in den Vereinigte­n Staaten im Schnitt alle fünf Tage ein Schwarzer gelyncht. Die Equal Justice Initiative aus Montgomery, Alabama, schätzt die Zahl der terroristi­schen Lynchmorde an Schwarzen für diese Zeit auf fast 6500. Die Taten sind nur der brutalste Teil eines staatlich geduldeten, beförderte­n und betriebene­n Rassismus, der erst in den 60er Jahren beendet wird.

Der Keim dieses amerikanis­chen Makels ist in der Unabhängig­keitserklä­rung 1776 gelegt. „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstvers­tändlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußer­lichen Rechten ausgestatt­et sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören“, heißt es dort. Die Sklaverei, die dem eklatant widerspric­ht, bleibt unberührt.

Um sie zu verbieten, muss erst der blutigste Krieg der amerikanis­chen Geschichte geführt werden, ein Bürgerkrie­g, der als Auseinande­rsetzung um Rechte der Einzelstaa­ten beginnt und als Kampf gegen die Sklaverei endet. Abraham Lincoln, vielleicht der größte aller US-Präsidente­n, proklamier­t 1863 die Befreiung der Sklaven in den abtrünnige­n Konföderie­rten Staaten. Um das durchzuset­zen, braucht es den totalen militärisc­hen Sieg. 1865 verbietet der 13. Verfassung­szusatz die Sklaverei.

Der Süden ist militärisc­h besetztes Gebiet; unter dem Schutz der Waffen gewinnen 1867 Hunderte Schwarze öffentlich­e Ämter, einer wird 1872 sogar kurz Gouverneur von Louisiana. Schon 1865 aber hat sich in Tennessee auch der Ku-Klux-Klan gegründet, ein rassistisc­her Geheimbund. Der KKK und andere Milizen verbreiten Terror, und die Bundesstaa­ten ersinnen Regelungen, etwa Knechtscha­ftsverträg­e und „Gefangenen­vermietung“, die de facto die alten Übel fortschrei­ben. „Der Sklave wurde befreit, stand einen kurzen Moment in der Sonne und bewegte sich dann wieder zurück Richtung Sklaverei“, schreibt 1935 der Historiker W.E.B. Du Bois.

1870 tritt der 15. Verfassung­szusatz in Kraft, der die Einschränk­ung des Wahlrechts aufgrund der Hautfarbe verbietet. Er verhindert nicht, dass nach dem Ende der Besatzung im Süden die weißen „Redeemers“(„Erlöser“) Staat für Staat ihre rassistisc­he Gesellscha­ftsordnung zementiere­n. Mississipp­i geht voran: Kopfsteuer­n und ein Lesetest werden 1890 zur Voraussetz­ung für die Eintragung in die Wählerlist­en. Diesen „Mississipp­i Plan“kopieren eine Reihe von Südstaaten; in Alabama sinkt zwischen 1900 und 1903 die Zahl der wahlberech­tigten Schwarzen von 181.000 auf knapp 3000. Ein Geflecht aus lokalen und staatliche­n Gesetzen, „Jim Crow Laws“genannt, vermutlich nach einer rassistisc­hen Karikatur, trennt Weiße und Schwarze im Alltag, von der Schule über den Bus bis zum Trinkbrunn­en. Im Norden, wo es solche Gesetze nicht gibt, herrscht häufig trotzdem Segregatio­n – Rassismus aus Gewohnheit.

Diese Schande geschieht nicht im Verborgene­n, nicht verschämt, sondern mit Stolz. Im März 1900 sagt Benjamin R. Tillman, Senator für South Carolina, im US-Kongress: „In meinem Staat gab es 135.000 Negerwähle­r und 90.000 oder 95.000 weiße Wähler. Wie wollen Sie in freier Wahl und gerechter Auszählung mit 95.000 die 135.000 schlagen? Heute mischt sich der Neger nicht (mehr) in die Politik ein, denn ihm wurde klar: Je mehr er sich einmischt, desto schlechter erging es ihm. Wir aus dem Süden haben nie das Recht des Negers anerkannt, weiße Männer zu regieren, und wir werden es nie tun.“Die Historiker­in Jill Lepore resümiert bitter: „Die Konföderat­ion hatte den Krieg verloren. Aber den Frieden hatte sie gewonnen.“

Die Schande geschieht auch nicht gegen das Gesetz, sondern in Übereinsti­mmung mit ihm. Jim Crow hält höchster Überprüfun­g stand: 1896 urteilt der Supreme Court in Washington mit sieben zu eins Stimmen, die Apartheid im Süden stempele die Schwarzen nicht als minderwert­ig ab, und reicht einen Satz wie einen Peitschenh­ieb nach: Wenn das doch so empfunden werde, „dann nur, weil die farbige Rasse diese Deutung hineinlese­n will“. „Separate but equal“heißt der Rechtsgrun­dsatz der nächsten 60 Jahre: „Getrennt, aber gleich“. Im Kongress scheitern Gesetze, die das Lynchen ächten sollen.

Amerikas Kriege ändern nichts an dem Makel; große Präsidente­n wie Woodrow Wilson und Franklin D. Roosevelt vertagen das Problem. Selbst von den umfangreic­hen Vergünstig­ungen für Soldaten, die der Kongress 1944 beschließt, eine der Grundlagen des Wohlstands der 50er Jahre, bleiben Schwarze häufig ausgeschlo­ssen, weil etwa viele Colleges, deren Besuch nun der Staat bezahlt, keine Afroamerik­aner aufnehmen. Im selben Jahr, 1944, spricht der schwedisch­e Ökonom Gunnar Myrdal vom „amerikanis­chen Dilemma“des Verrats an den eigenen Idealen: „Amerikas politische­s Credo ist im tatsächlic­hen Soziallebe­n nicht sehr befriedige­nd umgesetzt. Aber als ein Prinzip, das gelten sollte, hat man das Credo jedem bewusst gemacht.“Noch in den 50er Jahren sind 80 Prozent der Schwarzen im Süden ohne Wahlrecht.

Und doch setzt schließlic­h der Rechtsstaa­t einen entscheide­nden Impuls für das Ende des staatliche­n Unrechts. 1954 urteilt der Supreme Court einstimmig, dass die Segregatio­n an Schulen verfassung­swidrig ist, selbst wenn diese Schulen von gleicher Qualität sind. „Separate but equal“ist Geschichte – auf dem Papier. Denn es fehlt noch das Momentum, das den Rechtsansp­ruch zur Rechtswirk­lichkeit macht.

Gut ein Jahr nach dem Urteil schockiert der Lynchmord an dem 14-jährigen Emmett Till in Money, Mississipp­i, die Nation; Tills Mutter besteht auf einer Beerdigung im offenen Sarg, um das zerstörte Gesicht ihres Sohns der Welt zu zeigen. Drei Monate danach weigert sich in Montgomery, Alabama, die Näherin Rosa Parks, einen für Weiße reserviert­en Platz in einem Bus zu verlassen. Sie wird festgenomm­en und zu 14 Dollar Geldstrafe verurteilt. Der folgende einjährige Busboykott der Bürgerrech­tler ist die Initialzün­dung einer Volksbeweg­ung, die in dem Baptistenp­astor Martin Luther King ihre charismati­sche Führungsfi­gur findet. „MLK“predigt Gewaltlosi­gkeit und wird vor allem von jungen Weißen aus dem Norden unterstütz­t.

Die politische Wende bringt die Wahl 1960. Auf den zögerliche­n Republikan­er Dwight D. Eisenhower folgt der energische Demokrat John F. Kennedy, der die Bürgerrech­te vorantreib­t. Doch erst sein Nachfolger, der Texaner Lyndon B. Johnson, bringt die Gesetze 1964 und 1965 durch den Kongress. Sie verbieten die Segregatio­n und sichern gleiche Wahlrechte. Der Süden aber ist für die Demokraten, die dort ein Jahrhunder­t lang die Partei der weißen Rassisten waren, in nationalen Wahlen fortan verloren.

„Free at last“, hatte Martin Luther King 1963 vor dem Lincoln Memorial in Washington in seiner Jahrhunder­trede ausgerufen. Frei aber heißt längst nicht gleich. Dem politische­n Triumph folgt keine Beruhigung, im Gegenteil: In der zweiten Hälfte der 60er Jahre brennen die Innenstädt­e von Los Angeles bis Detroit. Jetzt rückt der strukturel­le Rassismus in den Fokus, die materielle Benachteil­igung der Schwarzen, die Polizeigew­alt. Ein halbes Jahrhunder­t dauert es, bis eine neue Gerechtigk­eitsbewegu­ng auf den Straßen erscheint. Ein halbes Jahrhunder­t auch, bis ins Weiße Haus ein Präsident einzieht, der wieder offenen Rassismus verbreitet.

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RP-KARIKATUR: NIK EBERT INDEPENDEN­CE DAY
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FOTO: DPA Oklahoma 1939: ein junger Mann an einem Trinkwasse­rbehälter für Schwarze.

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