Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Der amerikanische Makel
Seit dem Ende des Bürgerkriegs ist in den USA die Sklaverei verboten. Dennoch folgt ein Jahrhundert systematischer Entrechtung der Schwarzen – staatlich betrieben, gerichtlich gedeckt. Ein Verrat an den eigenen Idealen.
Wer die Geschichte von Jesse Washington hört, der könnte den Glauben an Amerika verlieren. Jesse Washington wurde nur 17 Jahre alt. Anfang Mai 1916 wird der Afroamerikaner Washington, möglicherweise zu Recht, verdächtigt, in Robinson, Texas, Lucy Fryer ermordet zu haben, die Frau seines Arbeitgebers. Der geistig zurückgebliebene Washington wird nach vierminütiger Beratung der rein weißen Geschworenenjury in Waco zum Tode verurteilt; als er aus dem Gerichtssaal geführt wird, macht sich ein Mob aus mehreren Tausend Menschen über ihn her.
Washington wird an einer Kette durch die Stadt geschleift, mit Öl übergossen und an einen Baum vor dem Rathaus gehängt, unter dem ein Feuer brennt. Immer wieder wird er in die Flammen herabgelassen. Washington versucht, an der Kette hinaufzuklettern, aber man schneidet ihm die Finger ab (ebenso Zehen und Genitalien). Mehr als 10.000 Menschen sehen zu, darunter Bürgermeister und Polizeichef. Der Sheriff weist seine Leute nicht an, die Barbarei zu stoppen. Als Washington endlich tot ist, brechen Kinder Zähne als Souvenirs aus seinem Kiefer. Ein Berufsfotograf verkauft Postkarten mit Bildern des Mordes. Niemand wird festgenommen.
Ein Fall, aber kein Einzelfall, im Gegenteil. Zwischen 1865 und 1950 wird in den Vereinigten Staaten im Schnitt alle fünf Tage ein Schwarzer gelyncht. Die Equal Justice Initiative aus Montgomery, Alabama, schätzt die Zahl der terroristischen Lynchmorde an Schwarzen für diese Zeit auf fast 6500. Die Taten sind nur der brutalste Teil eines staatlich geduldeten, beförderten und betriebenen Rassismus, der erst in den 60er Jahren beendet wird.
Der Keim dieses amerikanischen Makels ist in der Unabhängigkeitserklärung 1776 gelegt. „Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören“, heißt es dort. Die Sklaverei, die dem eklatant widerspricht, bleibt unberührt.
Um sie zu verbieten, muss erst der blutigste Krieg der amerikanischen Geschichte geführt werden, ein Bürgerkrieg, der als Auseinandersetzung um Rechte der Einzelstaaten beginnt und als Kampf gegen die Sklaverei endet. Abraham Lincoln, vielleicht der größte aller US-Präsidenten, proklamiert 1863 die Befreiung der Sklaven in den abtrünnigen Konföderierten Staaten. Um das durchzusetzen, braucht es den totalen militärischen Sieg. 1865 verbietet der 13. Verfassungszusatz die Sklaverei.
Der Süden ist militärisch besetztes Gebiet; unter dem Schutz der Waffen gewinnen 1867 Hunderte Schwarze öffentliche Ämter, einer wird 1872 sogar kurz Gouverneur von Louisiana. Schon 1865 aber hat sich in Tennessee auch der Ku-Klux-Klan gegründet, ein rassistischer Geheimbund. Der KKK und andere Milizen verbreiten Terror, und die Bundesstaaten ersinnen Regelungen, etwa Knechtschaftsverträge und „Gefangenenvermietung“, die de facto die alten Übel fortschreiben. „Der Sklave wurde befreit, stand einen kurzen Moment in der Sonne und bewegte sich dann wieder zurück Richtung Sklaverei“, schreibt 1935 der Historiker W.E.B. Du Bois.
1870 tritt der 15. Verfassungszusatz in Kraft, der die Einschränkung des Wahlrechts aufgrund der Hautfarbe verbietet. Er verhindert nicht, dass nach dem Ende der Besatzung im Süden die weißen „Redeemers“(„Erlöser“) Staat für Staat ihre rassistische Gesellschaftsordnung zementieren. Mississippi geht voran: Kopfsteuern und ein Lesetest werden 1890 zur Voraussetzung für die Eintragung in die Wählerlisten. Diesen „Mississippi Plan“kopieren eine Reihe von Südstaaten; in Alabama sinkt zwischen 1900 und 1903 die Zahl der wahlberechtigten Schwarzen von 181.000 auf knapp 3000. Ein Geflecht aus lokalen und staatlichen Gesetzen, „Jim Crow Laws“genannt, vermutlich nach einer rassistischen Karikatur, trennt Weiße und Schwarze im Alltag, von der Schule über den Bus bis zum Trinkbrunnen. Im Norden, wo es solche Gesetze nicht gibt, herrscht häufig trotzdem Segregation – Rassismus aus Gewohnheit.
Diese Schande geschieht nicht im Verborgenen, nicht verschämt, sondern mit Stolz. Im März 1900 sagt Benjamin R. Tillman, Senator für South Carolina, im US-Kongress: „In meinem Staat gab es 135.000 Negerwähler und 90.000 oder 95.000 weiße Wähler. Wie wollen Sie in freier Wahl und gerechter Auszählung mit 95.000 die 135.000 schlagen? Heute mischt sich der Neger nicht (mehr) in die Politik ein, denn ihm wurde klar: Je mehr er sich einmischt, desto schlechter erging es ihm. Wir aus dem Süden haben nie das Recht des Negers anerkannt, weiße Männer zu regieren, und wir werden es nie tun.“Die Historikerin Jill Lepore resümiert bitter: „Die Konföderation hatte den Krieg verloren. Aber den Frieden hatte sie gewonnen.“
Die Schande geschieht auch nicht gegen das Gesetz, sondern in Übereinstimmung mit ihm. Jim Crow hält höchster Überprüfung stand: 1896 urteilt der Supreme Court in Washington mit sieben zu eins Stimmen, die Apartheid im Süden stempele die Schwarzen nicht als minderwertig ab, und reicht einen Satz wie einen Peitschenhieb nach: Wenn das doch so empfunden werde, „dann nur, weil die farbige Rasse diese Deutung hineinlesen will“. „Separate but equal“heißt der Rechtsgrundsatz der nächsten 60 Jahre: „Getrennt, aber gleich“. Im Kongress scheitern Gesetze, die das Lynchen ächten sollen.
Amerikas Kriege ändern nichts an dem Makel; große Präsidenten wie Woodrow Wilson und Franklin D. Roosevelt vertagen das Problem. Selbst von den umfangreichen Vergünstigungen für Soldaten, die der Kongress 1944 beschließt, eine der Grundlagen des Wohlstands der 50er Jahre, bleiben Schwarze häufig ausgeschlossen, weil etwa viele Colleges, deren Besuch nun der Staat bezahlt, keine Afroamerikaner aufnehmen. Im selben Jahr, 1944, spricht der schwedische Ökonom Gunnar Myrdal vom „amerikanischen Dilemma“des Verrats an den eigenen Idealen: „Amerikas politisches Credo ist im tatsächlichen Sozialleben nicht sehr befriedigend umgesetzt. Aber als ein Prinzip, das gelten sollte, hat man das Credo jedem bewusst gemacht.“Noch in den 50er Jahren sind 80 Prozent der Schwarzen im Süden ohne Wahlrecht.
Und doch setzt schließlich der Rechtsstaat einen entscheidenden Impuls für das Ende des staatlichen Unrechts. 1954 urteilt der Supreme Court einstimmig, dass die Segregation an Schulen verfassungswidrig ist, selbst wenn diese Schulen von gleicher Qualität sind. „Separate but equal“ist Geschichte – auf dem Papier. Denn es fehlt noch das Momentum, das den Rechtsanspruch zur Rechtswirklichkeit macht.
Gut ein Jahr nach dem Urteil schockiert der Lynchmord an dem 14-jährigen Emmett Till in Money, Mississippi, die Nation; Tills Mutter besteht auf einer Beerdigung im offenen Sarg, um das zerstörte Gesicht ihres Sohns der Welt zu zeigen. Drei Monate danach weigert sich in Montgomery, Alabama, die Näherin Rosa Parks, einen für Weiße reservierten Platz in einem Bus zu verlassen. Sie wird festgenommen und zu 14 Dollar Geldstrafe verurteilt. Der folgende einjährige Busboykott der Bürgerrechtler ist die Initialzündung einer Volksbewegung, die in dem Baptistenpastor Martin Luther King ihre charismatische Führungsfigur findet. „MLK“predigt Gewaltlosigkeit und wird vor allem von jungen Weißen aus dem Norden unterstützt.
Die politische Wende bringt die Wahl 1960. Auf den zögerlichen Republikaner Dwight D. Eisenhower folgt der energische Demokrat John F. Kennedy, der die Bürgerrechte vorantreibt. Doch erst sein Nachfolger, der Texaner Lyndon B. Johnson, bringt die Gesetze 1964 und 1965 durch den Kongress. Sie verbieten die Segregation und sichern gleiche Wahlrechte. Der Süden aber ist für die Demokraten, die dort ein Jahrhundert lang die Partei der weißen Rassisten waren, in nationalen Wahlen fortan verloren.
„Free at last“, hatte Martin Luther King 1963 vor dem Lincoln Memorial in Washington in seiner Jahrhundertrede ausgerufen. Frei aber heißt längst nicht gleich. Dem politischen Triumph folgt keine Beruhigung, im Gegenteil: In der zweiten Hälfte der 60er Jahre brennen die Innenstädte von Los Angeles bis Detroit. Jetzt rückt der strukturelle Rassismus in den Fokus, die materielle Benachteiligung der Schwarzen, die Polizeigewalt. Ein halbes Jahrhundert dauert es, bis eine neue Gerechtigkeitsbewegung auf den Straßen erscheint. Ein halbes Jahrhundert auch, bis ins Weiße Haus ein Präsident einzieht, der wieder offenen Rassismus verbreitet.