Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Bischof Overbeck: „Ich habe Schuld auf mich geladen“
Ein neues Gutachten zeigt das Versagen von Bischöfen und Kardinälen in Köln, Münster und Essen. Ein verurteilter Sexualstraftäter konnte dort nahezu unbehelligt Jahrzehnte wirken.
Dieser Brief macht keine Missbrauchstaten durch Priester rückgängig, aber er markiert möglicherweise ein Umdenken katholischer Bischöfe. Am 16. November verlässt das Essener Bischofshaus ein Schreiben in Richtung Bochum-Wattenscheid. Empfänger ist die Gemeinde von St. Joseph. Hier lebte und wirkte weitgehend unbehelligt der Ruhestandsgeistliche A. – ein verurteilter Sexualstraftäter –, von 2002 bis 2015. Im Brief, der unserer Redaktion vorliegt, schreibt Bischof Franz-Josef Overbeck: „Insgesamt offenbart die Handhabung dieses Falles also bis in die jüngste Vergangenheit hinein erhebliche Mängel an Professionalität, Kooperation, Transparenz, Kommunikation und Sensibilität. Für die Verkettung von Fehlleistungen, die Versäumnisse und Missstände, die jetzt offenbar geworden sind, entschuldige ich mich ausdrücklich und auch persönlich. Mir ist dabei bewusst, dass dieser Vorgang Ihnen gegenüber nicht zu rechtfertigen war und es auch heute nicht ist.“
Später wird der 56-jährige Ruhrbischof in einem Interview mit der „Zeit“-Beilage Christ & Welt auf die Frage, ob er Schuld auf sich geladen habe, erklären: „Ich habe die Verantwortung am Anfang meiner Zeit als Bischof nicht richtig wahrgenommen. Ich hätte die Unterlagen lesen müssen, um dann Konsequenzen daraus zu ziehen. Deshalb ja: Ich habe Schuld auf mich geladen.“
Es geht um den Fall des heute 87-jährigen Priesters A. Einer von vielen anderen Fällen, aber ein besonders schrecklicher – weil er dokumentiert, wie seit 1960 ein pädophiler Sexualstraftäter seelsorgerisch tätig bleiben konnte; wie er wegen „fortgesetzter Unzucht mit Kindern und Abhängigen“strafrechtlich verurteilt wird, von der Kirche aber allenfalls ermahnt, in den Bistümern Köln, Münster – dort in Moers – und Essen versetzt und geschützt wird; wie Personalakten schludrig geführt werden und es eine Kommunikation zwischen den Bistümern bis vergangenes Jahr praktisch nicht gegeben hat. Erst im Juni 2019 wird Kardinal Woelki ein Dekret erlassen, das dem Ruhestandspfarrer jegliche Ausübung seines priesterlichen Amtes untersagt.
Dieser sprachlos machende Befund geht auch aus einem unserer Redaktion vorliegenden zehnseitigen Gutachten der Kanzlei Axis hervor. Auftraggeber: das Bistum Essen. Durch die Anstellung von Priester A. in Gemeinden von drei Bistümern über einen derart großen Zeitraum hinweg ist der Kreis der Verantwortlichen aus den Bistumsleitungen entsprechend groß. Inzwischen werden die Namen von elf Bischöfen genannt, die mit dem Fall des Priesters A. zu tun hatten oder darin verwickelt waren: die Bischöfe Rainer Maria Kardinal Woelki, Werner
Thissen, Felix Genn, Franz-Josef Overbeck und Stefan Heße sowie die bereits verstorbenen Bischöfe Josef Kardinal Frings, Joseph Kardinal Höffner, Heinrich Tenhumberg, Reinhard Lettmann, Joachim Kardinal Meisner und Hubert Luthe.
Diese Namen nennt die Axis-Kanzlei im Gutachten nicht – und trifft damit auf Zustimmung von Bischof Overbeck. Nach seinen Worten können alle die „Verantwortlichen der letzten Jahre kennen“. Außerdem helfe es nicht, „nur zu wissen, wer es war“. Für ihn ist es wichtiger, Lehren zu ziehen, um weiteres Unheil dieser Art zu verhindern. So schreibt er in seinem Brief an die Bochumer Gemeinde: „So sehr mich dieser Fall persönlich beschämt, so bestärkt er mich doch in der Bereitschaft und in dem Willen, weiterhin alles zu tun, damit wir die geschehenen Verbrechen sexualisierter Gewalt aufarbeiten und zugleich verhindern, dass Kinder und Jugendliche durch Mitarbeitende unserer Kirche zu Schaden kommen.“
Das Gutachten aus Essen – wie auch das vor wenigen Tagen im Bistum Aachen veröffentlichte – gibt erste Einblicke in jenes System beschämend falsch verstandener Amtskollegialität und nachlässiger Verantwortung. Es sind ein paar Bausteine. Weitere Gutachten aus anderen Bistümern folgen, etwa im kommenden Jahr in Münster. Ein vom Erzbistum Köln in Auftrag gegebenes Sondergutachten der Kanzlei Westpfahl, Spilker, Wastl zum Fall des Priesters A. ist bis heute unveröffentlicht geblieben. Nach Angaben der „Zeit“-Beilage Christ & Welt sollen darin die früheren Kölner Kardinäle Joseph Höffner und Joachim Meisner kritisiert werden. Danach sollen sie von sexuellen Übergriffen des Pfarrers A. Kenntnis gehabt haben. Ein kirchliches Strafverfahren aber sei unter Höffner „pflichtwidrig unterlassen“worden, so die Kanzlei aus München.
Das Schuldbekenntnis Overbecks ist ein wichtiger Schritt und in dieser Form in Deutschland noch ohne Vergleich. Bislang dominierten Verteidigungsund Rechtfertigungshaltungen die Debatten wie jene des Hamburger Erzbischofs Stefan Heße und des Aachener Altbischofs Heinrich Mussinghoff. Aber es sind nur die ersten Schritte. Weitere müssen folgen für eine Kirche der Seelsorger, die keine Menschen mehr zu Betroffenen machen darf. Dazu gehört auch die vorbehaltlose Veröffentlichung aller Gutachten. Das ist sie vor allem jenen Menschen schuldig, die sexualisierte Gewalt durch Geweihte erlitten haben und mitunter ihr Leben lang daran leiden.