Rheinische Post - Mönchengladbach and Korschenbroich
Quare lingua Latina utilis est?
Latein, ja oder nein? Vor dieser Frage stehen viele Schüler. Dabei kann es auch helfen, sich in einer digitalisierten Welt zurechtzufinden, so der Altphilologe Professor Stefan Kipf. Sein Tipp: Latein sollte man nur studieren, wenn man dafür brennt.
Wie kommt man auf die Idee, alte – und das heißt auch: sogenannte tote Sprache zu studieren und zu lehren?
KIPF Ich habe an der Schule, einer der wenigen altsprachlichen Gymnasien West-Berlins, Latein ab der fünften und Griechisch ab der neunten Klasse gelernt und beide Sprachen bis zum Abitur belegt. Ich hatte das Glück, in der Oberstufe Lehrerinnen und Lehrer zu haben, die mich für die Fächer begeistert haben, obwohl ich kein fachlicher Überflieger war. Mit diesen positiven Vorbildern lag es nahe, beide Fächer mit dem Wunsch zu verbinden, Lehrer zu werden. Das habe ich auch nie bereut, ganz im Gegenteil. Ich bin auch an der Uni als Professor für Didaktik der alten Sprachen ein begeisterter und überzeugter Lehrer geblieben.
Was sind die größten Vorurteile gegenüber Latein, die Ihnen begegnet sind?
KIPF Ganz sicher, dass Latein eine gänzlich tote Angelegenheit sei, die mit uns nichts mehr zu tun hat und uns geradezu daran hindert, unsere Welt zu verstehen. Das Gegenteil scheint mir der Fall zu sein: Die Antike ist unsere kulturelle Grundierung, ohne die wir nicht die wären, die wir sind. Alle wichtigen Literaturgattungen wurden in der Antike erfunden. Auch unsere Sprache ist voll ist mit Wörtern, die aus dem Lateinischen stammen. Das zeigt auch die jetzige Krise: Corona ist schließlich ein lateinisches Wort, das „Kranz“oder „Krone“bedeutet; es wurde gewählt, weil es das Aussehen des Virus gut trifft. Auch das Virus ist übrigens ein lateinisches Wort und bedeutet „Gift“oder „Schleim“.
Können Sie eigentlich Latein sprechen? Selbst für jeden, der das Latinum hat, ist das im Grunde unvorstellbar.
KIPF Paululum – ein wenig. Da gibt es übrigens eine große internationale Community, die das Lateinsprechen intensiv pflegt. Mein Doktorvater
Andreas Fritsch kann perfekt Latein sprechen, übrigens natürlich auch über ganz normale
Dinge des Alltags. Musterbeispiele hierfür sind übrigens die lateinischen Nachrichten von Radio Bremen oder des finnischen Rundfunks.
Kann man Gründe nennen, warum Latein als lebende Sprache ausgestorben und in diesem Sinne zum Dinosaurier geworden ist?
KIPF Latein ist ja niemals wirklich ausgestorben. Ganz im Gegenteil hat es als gesprochene Sprache seine größte Ausbreitung nach dem Untergang des römischen Reiches erfahren. Natürlich gab es dann keine Muttersprachler mehr, so dass Latein dann als Zweitsprache bis ins 18. Jahrhundert an Schulen gelernt wurde. Durch die Verbreitung der Nationalsprachen wie Deutsch, Französisch oder Englisch hatte man aber immer weniger Verwendung für Latein als aktiv gesprochene Sprache, und so hat es sich dann zu einer Schulsprache entwickelt, bei der bis heute die Übersetzung lateinischer Texte im Vordergrund steht.
Gibt es neue didaktische Wege, junge Menschen für Latein zu begeistern? Früher war das mal Asterix auf Latein …
KIPF In den letzten 40 Jahren hat sich eine Menge getan, um das Fach für Schülerinnen und Schüler attraktiv zu machen. Lateinunterricht galt ja immer als eine abschreckende Verbindung aus Grammatik und Krieg. Das ist glücklicherweise vorbei; Lateinbücher sind nicht mehr grau, sondern bunt, und zwar grafisch wie inhaltlich. Die Bücher bieten lateinische Texte mit gegenwartsbezogenen Themen von der Antike bis zur Neuzeit, angefangen beim Alltagsleben der Römer, ihrer Geschichte, bis hin zur antiken Mythologie und der Bedeutung des Lateinischen für die kulturelle Entwicklung Europas. Auch die Originallektüre hat sich verändert: Klassiker wie Caesar, Cicero und Vergil wurden ergänzt, etwa durch Autoren aus der Neuzeit wie Erasmus von Rotterdam und Thomas Morus. Sehr aktiv und erfolgreich sind wir darin, Latein als ein Fach zu positionieren, in dem alle Schülerinnen und Schüler in ihren sprachlichen Fähigkeiten im Deutschen gefördert werden. Diese sogenannte Sprachbildung ist Aufgabe aller Fächer. Latein kann hierzu besonders wichtige Beiträge leisten, weil es durch das Übersetzen die Sprachproduktion im Deutschen fördert und das Nachdenken über das Funktionieren Sprache eine zentraler Unterrichtsinhalt ist.
Wer sitzt bei Ihnen in den Vorlesungen?
KIPF Ich habe Studierende, die sich in den allermeisten Fällen für Ihr Fach Latein und/oder Griechisch begeistern und das auch an Schülern weitergeben wollen. Was ich gerade in einem Praxissemester unter Pandemiebedingungen sehe, ist schon sehr beeindruckend. Ich erlebe Studierende, die auch unter schwierigen Bedingungen mit großer Freude und erstaunlicher Professionalität ihren Unterricht gestalten. Sie wissen, dass die Zukunft des Faches davon abhängt, dass Sie sehr guten Lateinunterricht erteilen und ihre Begeisterung auf die Schülerinnen und Schüler überspringt. Ich habe großen Respekt vor meinen Studierenden.
Wem würden Sie raten, Latein zu studieren? Und wem davon unbedingt abraten? Das heißt auch: Wem nützt Latein?
KIPF Latein sollte man nur studieren, wenn man dafür brennt! Da ist es dann gar nicht so entscheidend, wie lange man Latein an der Schule gelernt hat.
Welche Rolle spielt Latein in einer Welt zunehmender Digitalisierung?
KIPF Im Lateinunterricht kann man wichtiges sprachliches und kulturelles Orientierungswissen erwerben, das sinnvoll ist, um sich in einer digitalisierten Welt zurecht zu finden. Dazu gehören allgemeine Erkenntnisse über die Hintergründe von Sprache und Sprachen, ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede; gut gemachter Lateinunterricht kann auch interkulturelles Bewusstsein fördern, indem am Beispiel der weit entfernten Antike über die Bedeutung kultureller Unterschiede gesprochen wird.
Was stellt Latein in unserem Gehirn an? Und gibt es besondere Fähigkeiten, die auch durch die Beschäftigung mit Latein gefördert werden – als eine Art intellektueller Beifang?
KIPF Wenn man das wüsste... dem Lateinischen wurde ja auch immer besondere Dinge nachgesagt, dass es etwa das logische Denken fördere, weil es eben eine logische Sprache sei. Diese Argument wurde schon im 19. Jahrhundert als völlig unhaltbar kritisiert, und auch die moderne Lernpsychologie konnte hierzu nichts ausfindig machen. Was wir aber – auch auf der Grundlage empirischer Untersuchungen – bestätigen könnten, ist die Tatsache, dass Lateinunterricht einen positiven Einfluss auf Fähigkeiten im Deutschen hat. Das ist zwar auch ein traditionelles Argument, konnte aber in den letzten Jahren ganz neu untermauert werden: So konnten wir in einer Untersuchung zeigen, dass Schülerinnen und Schüler, die Deutsch als Zweitsprache lernen, dies mit größerem Erfolg tun, wenn sie Lateinunterricht haben. Zudem fördert Lateinunterricht ein historisch fundiertes sprachliches Bewusstsein – dies hat mir ein Linguist bestätigt: Mit Lateinern könne man sich gut über sprachliche Strukturen und Funktionen unterhalten.
LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS INTERVIEW.